aus nzz.ch, 27.10.2019
Das Wort Gottes hat eine sehr irdische Geschichte:
Wie die Bibel entstanden ist
Von
den heiligen Schriften im alten Israel über die ersten Evangelien bis
zum Kanon der Bücher des Alten und Neuen Testaments, das ist ein langer
Weg. Wann die Bibel so war, wie wir sie heute kennen, ist gar nicht so
einfach zu sagen.
Die Bibel ist nicht vom Himmel gefallen. Im Gegenteil, sie hat – was bei fundamentalistischen Juden und Christen die Nerven blank liegen lässt – eine ganz menschliche Geschichte. Diese haben Konrad Schmid und Jens Schröter, protestantische Professoren für die Geschichte biblischer Literatur, rekonstruiert. Wir erfahren, was es bedeutete, den Schritt von einer mündlichen zur einer Schrifttradition zu gehen, eine Entwicklung, die sich im vorexilischen Israel und Juda seit etwa dem 9. vorchristlichen Jahrhundert vollzog.
Ausserdem
klären uns die beiden Autoren über die formative Phase intellektueller
Literaturproduktion während und nach dem babylonischen Exil seit dem
Jahr 597 auf, also zwischen dem 6. und 4. Jahrhundert v. Chr. Dies ist
das vielleicht faszinierendste Kapitel des Buches, weil es die Idee
eines punktgenauen «Ursprungs» der Bibel auflöst. Vielmehr lässt sich
zeigen, wie der Untergang Israels unter den Eroberungsschlägen der
Babylonier und die Rückkehr der intellektuellen Priesterschaft nach
Jerusalem die Frage freisetzte, was denn die Grundlage der Identität
eines jüdischen Volkes sei.
Eine
der langfristig wichtigsten Antworten lautete: Schrift. Sie
überarbeiteten und fertigten Texte, die schliesslich zur Bibel wurden.
Schmid und Schröter beenden ihre Textarchäologie im 6. Jahrhundert
n. Chr. mit der Geschichte der christlichen Schriften, die erst langsam
zu einem neuen «Testament» wurden, und, besonders verdienstvoll, mit dem
Blick auf die parallele Formierung einer jüdischen Bibel. Als
exzellente Kenner haben Schmid und Schröter einen verlässlichen Cicerone
geschrieben, in einem Gebiet, in dem Laien unter den jahrhundertealten
Bergen von Literatur und in den Nahkampfzonen der Textforschung Atemnot
bekommen würden. Chapeau!
Der Kern und die Ränder
Gleichwohl
hat das Buch seine Tücken. Zum einen schwankt die Darstellung
unentschieden zwischen der Interpretation einzelner biblischer Bücher
und ihrer Kontexte und dem Versprechen des Titels, über «die Entstehung
der Bibel» aufzuklären. Über Dutzende von Seiten wird die Geschichte der
vorexilischen Reiche ausgebreitet, die Entstehung des Monotheismus
fehlt nicht, ebenso wenig Theologien von Schuld und Sühne, der jüdische
Philosoph Philo von Alexandrien bringt es auf knapp zehn Seiten, die
Theologie der Evangelien auf gut das Doppelte.
Man
braucht, um kein Missverständnis aufkommen zu lassen, derartige
Informationen, aber in der Überfülle des Materials, das die beiden
Autoren aus dem Fundus ihres Wissens, welches sie in vielen
Publikationen unter Beweis gestellt haben, ausbreiten, geht der rote
Faden manchmal verloren.
Das
zweite Problem liegt in der Antwort des Buches auf die Frage, wie man
sich «die Entstehung der Bibel» bis zu ihrer kanonischen Festlegung
vorzustellen habe. Beide Autoren wissen nur allzu gut, dass es zwar
einen Kern gab, einen stabilen Bestand von Texten, im Neuen Testament
etwa die vier Evangelien und die Paulusbriefe, aber zugleich einen
offenen Rand und dauernde Debatten über den Stellenwert einzelner
Bücher. «Unschärfe» ist deshalb zu Recht ein Schlüsselbegriff dieses
Buches.
Allerdings
werden diese Ränder systematisch unterschätzt. Und so erfährt man nicht,
dass in allen 17 deutschen Übersetzungen des Neuen Testamentes vor
Luther ein Brief an die Laodizäer unter dem Namen des Paulus auftaucht,
dass der Hebräerbrief im Westen auch nach der Antike umstritten blieb
oder dass die Johannesapokalypse in den östlichen Kirchen noch im
17. Jahrhundert als verbindliches Buch verworfen werden konnte.
Nichts mehr ausser Luthers Bibel
Und
nur ganz am Rand kommt die äthiopische Kirche in den Blick, deren
neutestamentlicher Schriftenbestand bis heute durchaus das Doppelte des
westlichen Umfangs betragen kann und die die Idee eines verbindlichen
«Kanons» nicht teilt. Die These, dass «der Kanon des Neuen Testaments
seit dem 4. Jahrhundert im Wesentlichen feststand», ist angesichts
dieses Befundes ziemlich mutig.
Zu
dieser Blickverengung kam es vermutlich, weil beide Autoren Fachleute
für die Antike sind und sich entschieden haben, mit dem
6. nachchristlichen Jahrhundert aufzuhören. Und so erfahren wir nichts
über die porösen Ränder der mittelalterlichen Bibel, wenig über
Schriften wie das Protoevangelium des Jakobus, die auf Augenhöhe mit den
«kanonischen» Evangelien gelesen werden konnten.
Und
vor allem erfahren wir fast nichts über die Entstehung eines
geschlossenen Kanons im 16. Jahrhundert: über die Festlegungen in der
katholischen Kirche auf dem Tridentiner Konzil, über die darauf
reagierenden Beschlüsse reformierter Synoden in den folgenden
Jahrzehnten und die faktische Kanonisierung der sprachgewaltigen Bibel
Luthers in den lutherischen Kirchen. Schmid und Schröter erzählen eine
dichte Geschichte des Anfangs – aber das (vorläufige) Ende der
«Entstehung der Bibel» fehlt. Für die Vorgeschichte allerdings verdient
das Buch zweifellos das Prädikat: lesenswert!
Konrad
Schmid / Jens Schröter: Die Entstehung der Bibel. Von den ersten Texten
zu den heiligen Schriften. Verlag C. H. Beck, München 2019. 504 S., 52
Abb. Fr. 42.90.
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