Donnerstag, 10. Oktober 2019

Wie weit kann China kommen?


aus nzz.ch, 8.10.2019,

China hat ein echtes Problem: 
Darum wird der aufstrebende Hegemon die USA nicht überholen
Ich habe eine Wette laufen, und ich werde sie hoffentlich gewinnen: China wird nicht zum neuen Hegemonen. Das Chaos steht dem Reich der Mitte noch bevor. Das hat mich die Lektüre eines chinesischen Science-Fiction-Romans gelehrt.

von Niall Ferguson

Der 70. Jahrestag der Volksrepublik China war kein Ereignis, das mich zum Feiern ermunterte. Wie der niederländische Historiker Frank Dikötter in seiner zugespitzten dreibändigen Geschichte der Mao-Zedong-Ära gezeigt hat, gehen auf die Rechnung des kommunistischen Regimes zig Millionen Tote: zwei Millionen zwischen 1949 und 1951, weitere drei Millionen gegen Ende der 1950er Jahre, bis zu 45 Millionen während der menschengemachten, als «Grosser Sprung nach vorn» bekannten Hungersnot und noch mehr während des Chaos der Kulturrevolution, Maos Feldzug gegen die Intelligenz, der sich zum Bürgerkrieg auswuchs.

Hitlers «Drittes Reich» wurde 1945 durch massive militärische Macht ausgelöscht. Es hatte zwölf Jahre gedauert. Stalins Sowjetunion trug beim Sieg über Hitler die Hauptlast, erlag später aber ökonomischer Sklerose. Sie zerfiel 1991 im Alter von 68 Jahren. Das Mysterium der Volksrepublik China liegt darin, dass sie immer noch unter uns weilt. 

Das Dreikörperproblem.

Vor zwei Wochen wettete ich mit dem chinesischen Ökonomen Justin Yifu Lin um 20 000 Yuan (2500 Euro), dass Chinas Wirtschaft – ausgedrückt als Bruttoinlandprodukt (BIP) in Dollar – niemals die Wirtschaft Amerikas überholen werde. Die meisten informierten Menschen würden wohl erwarten, dass ich diese Wette verlieren werde.

1996 betrug das BIP Chinas knapp mehr als zehn Prozent des Niveaus der USA. Zehn Jahre später überschritt es die Marke von 20 Prozent. 2010 waren es mehr als 40 Prozent des amerikanischen BIP. Dieses Jahr werden es etwa zwei Drittel werden. Der Internationale Währungsfonds schätzt, dass der Wert für 2024 knapp unter 83 Prozent liegen wird. Solange Chinas Wachstum nicht plötzlich abstürzt oder Amerika nicht ein höchst unwahrscheinliches ökonomisches Wunder schafft, werde ich also wohl innerhalb des zwanzigjährigen Zeitrahmens der Wette bezahlen müssen.

Na gut, ich könnte Ihnen jetzt eine Erklärung dafür liefern, warum ich glaube, dass Chinas Ansage, «aufzuholen und zu überholen» (die chinesische Abkürzung lautet «ganchao»), dennoch scheitern wird. Dazu würde ich auf das demografische Problem verweisen, das der einstigen Ein-Kind-Politik zuzurechnen ist – die Erwerbsbevölkerung schrumpft inzwischen. Weiterhin würde ich die exzessive Verschuldung in Erinnerung rufen, die während der letzten zehn Jahre aufgebaut wurde, die Umweltfolgen einer rasanten, nicht nachhaltigen Industrialisierung und die fundamentale Unvereinbarkeit einer Einparteiherrschaft mit dem Aufkommen der grössten Bourgeoisie in der Geschichte.

Sind die Unruhen in Hongkong ein Vorbote, dass die Periode der Stabilität in China zu Ende geht? Regenschirme von Pro-Demokratie-Aktivisten in der ehemaligen britischen Kronkolonie. (Bild: Chris McGrath / Getty) 
Sind die Unruhen in Hongkong ein Vorbote, dass die Periode der Stabilität in China zu Ende geht? Regenschirme von Pro-Demokratie-Aktivisten in der ehemaligen britischen Kronkolonie.

Aber vielleicht findet sich eine interessantere Antwort – in Liu Cixins erstaunlichem Science-Fiction-Roman «Das Dreikörperproblem» (2008), den ich letzte Woche zum ersten Mal las. Das Problem wird dem Leser – und dem Nanotechnikwissenschafter Wang Misao, einer der zentralen Figuren – als Virtual-Reality-Game vorgestellt, das in einer seltsamen fernen Welt mit drei Sonnen statt der bekannten einen Sonne angesiedelt ist.

Die einander wechselseitig störenden Gravitationskräfte der drei Sonnen verhindern, dass dieser Planet eine vorhersagbare Umlaufbahn mit regelmässigen Tagen, Nächten und Jahreszeiten erreichen kann. Er erlebt gelegentliche stabile Zeitalter, in denen die Zivilisation vorankommen kann, doch mit minimalen Vorwarnzeiten weichen sie chaotischen Zeiten mit intensiver Hitze oder Kälte, die den Planeten unbewohnbar machen. 

Die Trisolarier

Obwohl der Planet so seltsam ist, leben dort vertraute Gestalten aus der Erdgeschichte. In einem Versuch, das Dreikörperproblem zu lösen – also ein Modell zu finden, mit dem die Umlaufbahnen des Planeten zwischen den drei Sonnen vorherzusagen sind –, konstruiert Qin Shi Huang, der erste Kaiser Chinas, den ersten Computer. Dazu konfiguriert er seine Armee als ungeheuren menschlichen Schaltkreis. Qins Imperium ist eine von ungefähr hundert Zivilisationen, die auf dem Planeten entstehen, nur um schliesslich von den anscheinend zufallsbestimmten Bewegungen der drei Sonnen vernichtet zu werden.

Zentraler Anspruch von Lius Roman ist, dass Chinas Geschichte nach dem gleichen Muster verläuft wie das Dreikörperproblem: Perioden der Stabilität enden stets mit Perioden des Chaos – die Chinesen nennen das «dong luan». Eine weitere Schlüsselfigur des Buches ist Ye Wenjie, die in einer vierzig Jahre zuvor angesiedelten Romanpassage zusieht, wie ihr Vater, ein Professor an der Tsinghua-Universität, während der Kulturrevolution von Roten Garden im Teenageralter totgeschlagen wird.

Aus Peking in ein Arbeitslager in einem gottverlassenen ländlichen Hinterwäldlernest verbannt, wird Ye gerettet, als sie einen einfachen Job in einem geheimnisvollen, als Rote Küste bekannten Observatorium bekommt. Doch nichts kann die emotionale Beschädigung ungeschehen machen, die sie erlitt, als sie den Mord an ihrem Vater mitansehen musste. Auch dem Chaos des Kommunismus kann sie nicht entkommen. Voller Schrecken sieht sie zu, wie das ganze Gebiet rund um das Observatorium entwaldet wird. Alles – sogar die Astrophysik – wird Maos verdrehter Ideologie untergeordnet.

Vollkommen desillusioniert durch die Verrücktheit der Menschheit – ein Gefühl, das durch ein zufälliges Zusammentreffen mit einem amerikanischen Umweltaktivisten noch verstärkt wird –, stolpert Ye über eine Möglichkeit, von der Erde aus eine Botschaft tief ins All zu schicken, indem sie sie von der Sonne reflektieren lässt. Als nach Jahren leeren Rauschens eine klare Antwort zurückkommt, zögert sie nicht. Obwohl die Botschaft davor warnt, mit Trisolaris in Kontakt zu treten – es ist der Name eines nicht virtuellen Planeten mit drei Sonnen –, schickt Ye eine weitere Nachricht, so dass die Trisolarier die Erde orten und ihre lang geplante Umsiedlung in Angriff nehmen können. 

Die Pointe

Nachdem sie im politischen Tauwetter nach Maos Tod rehabilitiert wurde, kehrt Ye nach Peking zurück und wird nach dem Vorbild ihres Vater Physikprofessorin. Doch sie führt ein Doppelleben, denn sie wird auch Anführerin der Erde-Trisolaris-Bewegung, einer radikal menschenfeindlichen Organisation, die sich dafür engagiert, den Trisolariern bei der Eroberung der Erde zu helfen.

Die Mitglieder der Bewegung «hatten alle Hoffnung in die menschliche Zivilisation aufgegeben; sie hassten ihre eigene Spezies und waren gewillt, sie zu verraten. Als ihr höchstes Ideal sahen sie sogar die Auslöschung der gesamten menschlichen Art, sie selbst und ihre Kinder eingeschlossen.» «Beginnt eine globale Revolution!», rufen sie. «Lang lebe der Geist von Trisolaris! Wir werden ausharren wie das störrische Gras, das nach jedem Buschbrand wieder austreibt! Vernichtet die menschliche Tyrannei!»

Sie ahnen nicht, dass die Trisolarier noch schlimmer sind als die Menschen. Einer der Aliens verweist darauf, dass wegen der absoluten Unvorhersagbarkeit ihrer Welt «alles dem Überleben untergeordnet ist. Um das Überleben einer Zivilisation als Ganzes zu ermöglichen, geniesst der Einzelne fast keinen Respekt. Wenn jemand nicht mehr arbeiten kann, wird er getötet. Die trisolarische Gesellschaft existiert in einem Zustand des extremen Autoritarismus.» Das Leben des Einzelnen besteht aus «Monotonie und Austrocknung». Das hört sich doch sehr nach Maos China an.

Eine Szene in «Das Dreikörperproblem» geht einem nicht aus dem Kopf. Ein Erwachsener und ein Kind stehen sinnend am Grab eines Rotgardisten, getötet während der Fraktionskämpfe, die während der Kulturrevolution wüteten. «Sind sie Helden?», fragt das Kind. Der Erwachsene sagt Nein. «Sind sie Feinde?» Der Erwachsene sagt wieder Nein. «Wer sind sie dann?» Der Erwachsene erwidert: «Geschichte.»

Es stimmt, der Held der Story ist der vulgäre, kettenrauchende Pekinger Cop Shi Qiang. Chinesische Leser geniessen zweifellos die Szene, in der er einen aufgeplusterten US-Beamten darüber belehrt, wie die Welt am besten zu retten sei. Doch die tiefere Bedeutung des Buches liegt sicher darin, dass Trisolaris gleich China ist. Die drei widerstreitenden Körper sind keine Sonnen, sondern Klassen: Herrscher, Intellektuelle, Massen.

In diesem Moment befindet sich China in einer seiner stabilen Phasen. Doch wenn die widerstreitenden Kräfte sich verschieben, wird früher oder später das Chaos zurückkehren. Vielleicht ist das in Hongkong bereits der Fall. Wenn es sich ausbreitet, werde ich diese Wette gewinnen – und mit mir gewinnt die Geschichte.

Niall Ferguson ist Senior Fellow am Zentrum für europäische Studien in Harvard und forscht gegenwärtig als Milbank Family Senior Fellow an der Hoover Institution in Stanford, Kalifornien. Der obenstehende Essay ist eine Kolumne, die Ferguson für die britische «Sunday Times» verfasst hat – sie erscheint hier exklusiv im deutschen Sprachraum. Wir danken der «Sunday Times» für die Möglichkeit des Wiederabdrucks. – Aus dem Englischen übersetzt von Helmut Reuter.

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