aus Tagesspiegel.de, 21. 10. 2019 Osthaus steht noch, Westladen ist schon wieder geschlossen.
Außer Klagen nichts zu sagen?
Was am Opferdiskurs der Ostdeutschen falsch ist
Die meisten Ostdeutschen sind zufrieden, das geht im
30-Jahre-Wende-Gejammer unter. Eine interessierte Minderheit betreibt
diese Opferdebatte. Ein Gastbeitrag.
von Detlef Pollack
Als Ostdeutscher
hat man es gerade nicht leicht. Wir werden als Bürger zweiter Klasse
behandelt, die Löhne in Ostdeutschland liegen auch 29 Jahre nach der
Wiedervereinigung noch immer 17 Prozent unter dem Westniveau, von den 30
Dax-Vorstandsvorsitzenden kommt nicht einer aus den neuen
Bundes- ländern. Und sind im Prozess der Wiedervereinigung nicht auch
unsere Biografien entwertet worden?
In diesen Tagen
werden wieder und wieder Verlustrechnungen aufgemacht, in denen die
Ostdeutschen als die Benachteiligten der Einheit dastehen – vor allem
von ostdeutschen Intellektuellen.
Manche bezeichnen den Einigungsvertrag zwischen der DDR und der
Bundesrepublik als „bedingungslose Kapitulation“. Andere in- szenieren
Ostdeutschland als das „Land der kleinen Leute“ ohne eigene Stimme und
ohne soziale Anerkennung.
Nach
drei Jahrzehnten deutscher Einheit scheinen die Wortführer des Ostens
vor allem eines gelernt zu haben, wie man sich öffentlichkeitswirksam
über eine vermeintliche Dauermisere beklagen und dabei dem Westen
weitgehendes Versagen unterstellen kann. Manch einer vermag dabei den
„Jammerossi“ sogar noch als Klischee der Westdeutschen auszulagern, von
dem sich diese nun endlich einmal lösen sollten.
Der Opferdiskurs lässt die Mehrheit außer acht
Kaum
ein westlicher Akteur wagt noch, diesem Opferdiskurs selbstbewusst
entgegenzutreten. Er möchte dem naheliegenden Verdacht, dem
westdeutschen Überlegenheitsgestus verfallen zu sein, keine neue Nahrung
geben. Also werden die Ostdeutschen in ihrem Klagemodus derzeit jovial
bestärkt. So etwa wenn jetzt von staatstra- gender Seite die Deutschen in
Ost und West dazu angehalten werden, 30 Jahre nach dem Mauerfall „einen
ganz neuen Solidarpakt“ zu schließen, einen "Solidarpakt der
Wertschätzung".
„Wer seine Arbeit verlor“, erklärte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier anlässlich des Mauergedenkens am 13. August diesen Jahres,
wer „mehrmals umschulen musste, wer sich an marktwirtschaftliche Logik –
und deren Auswüchse – erst gewöhnen musste und gleichzeitig eine
Familie zu versorgen hatte, der schaut heute anders auf unser Land als
einer, der von solchen Umbrüchen verschont blieb.“
Nach den
schockierenden Wahlerfolgen der AfD im Osten kümmert sich nun jedermann
um die Abgehängten im Osten, nicht nur der Bundespräsident, sondern auch
die Parteien, das öffentlich-rechtliche Fernsehen, die Tages- und
Wochenzeitungen landauf landab. Die Ostdeutschen liegen auf der Couch
und lassen sich die ver- letzte Seele streicheln.
Was ist falsch an diesem Opferdiskurs?
Vor allem dies, dass er
die Mehrheit der Ostdeutschen außer Acht lässt. Denn diese Mehrheit
bekennt, dass sie zufrieden mit ihrem Leben ist, dass es ihr heute
besser geht als vor 30 Jahren, dass sie sich sozial anerkannt fühlt. Und
sie wählt nicht rechtspopulistisch.
Der für die Bundesrepublik
repräsentativen Langzeitstudie Sozio-ökonomisches Panel (SOEP) des
Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin zufolge nähern
sich die Zufriedenheitswerte der Ostdeutschen in den vergangenen drei
Jahrzehnten denen der Westdeutschen immer mehr an. Auf einer Skala von 0
(= ganz und gar unzufrieden) bis 10 (= ganz und gar zufrieden) bewerten
die westdeutschen Bundesbürger ihre subjektive Lebenszufriedenheit
heute durchschnittlich mit einem Wert von 7,6, die ostdeutschen mit
einem Wert von 7,35. Zwei Drittel der Ostdeutschen stimmen der Aussage
zu, die Wiedervereinigung habe für die Bürger in den neuen Bundesländern
mehr Vorteile als Nachteile gebracht. So die Ergebnisse der von
Soziologen als äußerst zuverlässig eingeschätzten Allgemeinen
Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (Allbus) von 2018.
Ost und West sind ungefähr gleich zufrieden
Und
eine Sonderstichprobe des bereits erwähnten SOEP kommt zu dem Ergebnis,
dass es, was das Maß der berichteten Wert- und Geringschätzung angeht,
zwischen Ost und West keine signifikanten Unterschiede gibt. Auch in
anderen Hinsichten erweist sich die Mehrheit der Ostdeutschen weder als
abgehängt noch als desin- tegriert. Mit dem Weg, wie sich die Demokratie
in Deutschland entwickelt, sind nach den Ergebnissen des Eurobarometers
heute 54 Prozent zufrieden – etwa so viel wie auch 1990, als die
Euphorie über die Wiederver- einigung noch nicht vom allgemeinen Klagen
über sie abgelöst war.
Im Westen sind es zwar immer noch mehr,
die sich als zufrieden mit dem Funktionieren der Demokratie in
Deutschland bezeichnen, aber der Abstand zwischen Ost und West ist in
den vergangenen fünf Jahren kleiner geworden, und er wird noch einmal
geringer, wenn man den Anteil der AfD-Wähler herausrechnet. Fragt man
die Menschen, ob sie die Demokratie für eine gute Regierungsform halten,
so bejahen diese Frage 83 Prozent der Ostdeutschen. In den alten
Bundesländern sind es 90 Prozent, so die Daten der Bertelsmann-Stiftung
von 2017. Selbst mit der Marktwirtschaft, denen die Ostdeutschen ihr
trauriges Schicksal doch vor allem zu- schreiben müssen, sind im Osten
immer mehr Menschen zufrieden.
Wie kann das sein? Wie stimmen diese Daten mit der allgemein konstatierten Verdrossenheit der Ostdeutschen zusammen?
Alle
diese Daten bewegen sich auf der Individualebene. Wenn sie sich auf die
Zufriedenheit mit dem eigenen Leben, die Vor- oder Nachteile der
Wiedervereinigung oder Gefühle der Anerkennung beziehen, handelt es sich
um subjektive Einschätzungen der persönlichen Lage. Sofern sie die
Beurteilung von Demokratie und Markt- wirtschaft betreffen, stellen sie
noch immer subjektive Aussagen dar. Keine von ihnen bezieht sich jedoch
auf die Ostdeutschen als kollektive Gruppe oder auf Ostdeutschland als
vom Westen zu unterscheidende Region. Und genau darin liegt das Problem.
Das Problem ist die Überlegenheit des Westens
Vergleichen
sich die Ostdeutschen mit den Westdeutschen, fühlen sie sich
benachteiligt; in den neuen Bundes- ländern haben weitaus weniger Menschen
das Gefühl, dass sie im Vergleich zu dem, wie es anderen in Deutsch- land
geht, den ihnen zustehenden gerechten Anteil erhalten, als in den alten
Bundesländern. Betrachten sie Ost- deutschland als Ganzes, können sie
sich über die Kluft zum Westen, die sie an vielen Kennziffern und
Erfah- rungen festmachen können, nur beschweren.
Das Problem ist also, könnte man sagen, nicht der Osten, sondern die wahrgenommene und noch immer beste- hende Überlegenheit des Westens.
Selbst die selbstbewussten Sachsen denken zwar zu 90 Prozent, dass man
auf das, was man in Sachsen seit 1989 erreicht hat, stolz sein kann, und
70 Prozent schätzen die wirt- schaftliche Lage in Sachsen als die beste
Ostdeutschlands ein und sogar 75 Prozent als besser als in den Ländern
Osteuro- pas, aber im Vergleich zu den Bewohnern der westdeutschen
Bundesländer empfinden jedoch nur noch neun Prozent die Situation in
Sachsen als besser (Sachsen-Monitor).
Hinzu kommt, dass man das,
was es an Erfolgen im Osten gibt, zum großen Teil nur mit westlicher
Hilfe erreichen konnte. 2,3 Billionen Euro sind in den Jahren seit der
Herstellung der deutschen Einheit von West nach Ost geflossen. Der
erreichte Wohlstand ist in einem nicht unbeträchtlichem Ausmaß ein
geschenkter. Die Ostdeutschen wissen, dass sie ihn nur zu einem Teil den
eigenen Anstrengungen verdanken. Wenn man die ostdeutschen Regionen
außerhalb der Großstädte besucht, sieht man auf den ersten Blick, dass
sich viele von ihnen in den durchsanierten Städten und Gemeinden wie
Fremdkörper bewegen, die das, was sie an glänzenden Stahl-, Glas- und
Betonkonstruktionen umgibt, nicht als ihr Eigenes erkennen – sofern sie
denn überhaupt außer Haus gehen und nicht im Privaten bleiben.
Der gemeine Ossi ist dreist
Die
ostdeutschen Intellektuellen, die die Kolonialisierung des Ostens
beschwören, gehen an der Lebenslage der Mehrheit ihrer Landsleute vorbei
und machen sich zum Sprachrohr von denjenigen, denen sie doch wohl eher
mit Ablehnung gegenüberstehen. Eine Minderheit der Ostdeutschen hat es
verstanden, sich zum Opfer der deut- schen Einheit zu stilisieren und mit
seinem Wahlverhalten Berücksichtigung einzuklagen. Wählte ein Großteil
von ihnen erst die Linke, um die westlichen Eliten herauszufordern, so
meint sie jetzt, in der AfD einen noch wirksameren Proponenten ihrer
Anliegen gefunden zu haben.
Der gemeine Ossi ist wendig, und er
ist dreist. Er hat es geschafft, der westlichen Elite ein schlechtes
Gewissen zu verschaffen. Sein Verhalten, auch sein Wahlverhalten ist
taktisch und instrumentell, und es ist durchschaubar. Mit seinem Protest
will er sich zu unserem Problem machen.
Wir müssen diesen Protest
ernstnehmen, aber uns von ihm nicht instrumentalisieren lassen. Wir
sollten nicht den Klagegesang einer Minderheit bedienen und uns als ihr
verlängertes Sprachrohr missbrauchen lassen, indem wir den Ossi als ein
benachteiligtes und entmündigtes Wesen porträtieren, dem die Anerkennung
verweigert wird. Wir sollten den Blick frei bekommen und wahrnehmen,
dass die Mehrheit der Ossis – unter teilweise erheblichen Anstrengungen
und Entbehrungen, das muss man auch sehen – sich in das westliche System
eingefädelt hat und in Deutschland angekommen ist.
Ja, wir sind übernommen worden, aber können wir darüber nicht
einfach nur froh sein, dass der Westen diese Last auf sich genommen hat?
Dankbarkeit schließt natürlich nicht aus, die teilweise erheblichen und
teilweise noch immer bestehenden Probleme der Vereinigung zu benennen
und auf sie kritisch zu verweisen. Als Ostdeutscher zu einer Gruppe zu
gehören, die als ewig klagende Gemeinschaft der zu Kurz-Gekommenen
Aufmerksamkeit und Berücksichtigung erzwingen will – das nervt, wie
vielleicht der gemeine Wessi sagen würde.
Nota. - Nestbeschmutzer, sagt der ossische Wutbürger, und macht sein Kreuz Sie-wissen-schon-wo.
Sie wissen nicht, wo? Na, erst bei diesen, jetzt bei jenen.
JE
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