Montag, 7. Oktober 2019

Das Private darf nicht politisch werden.



aus nzz.ch, 7.10.2019
                   
Die Privatsphäre schwindet – auch weil wir sie dauernd ausdehnen

In unsere eigenen vier Wände wollen wir keinen blicken lassen. Und gegen Firmen, die unsere persönlichen Daten sammeln, bringen wir den Staat in Stellung. Doch zugleich arbeiten wir selber lustvoll am Ende der Privatheit. 

von Claudia Mäder

Es gibt Meldungen, die man zweimal lesen muss, ehe man sie richtig versteht. Diese hier aber ist selbst nach dreimaliger Durchsicht kaum zu glauben: Vorletzte Woche ist Steven Weber in Tansania ertrunken, als er seiner Freundin durch das Fenster eines Unterwasserhotels hindurch einen Heiratsantrag machte.

«Alles, was ich an dir liebe, liebe ich mit jedem Tag mehr», hatte der amerikanische Anwalt in kindlich-krakeliger Handschrift auf ein liniertes, dreifach gelochtes und in Klarsichtfolie verpacktes Blatt Papier geschrieben. Kenesha Antoine, seine Freundin, hat es auf der anderen Seite der Scheibe gelesen, sich lachend über den Antrag gefreut, die ganze Szene gefilmt – und das Video ins Internet gestellt, nachdem Weber tot aus dem Wasser geborgen worden war. Wodurch er beim Auftauchen umkam, ist unklar. «Der beste Tag unseres Lebens wurde zum schlimmsten», kommentierte die Frau ihren Film, und selbstverständlich ist der Eintrag bald millionenfach angeklickt worden.


Man weiss nicht, was man verrückter finden soll: die Existenz von Unterwasserhotels, das Brimborium um einen Heiratsantrag, den tragischen Tod des Mannes – oder doch den Umstand, dass die Frau einen höchst intimen Moment ihrer Existenz mit der ganzen Welt teilt und ihr Privatleben so transparent macht wie das seltsame Aquarium, in dem es sich abspielte. Die Grenzen zwischen privater und öffentlicher Sphäre verschwimmen: Das zeigt sich bei diesem dramatischen Ereignis jedenfalls auf selten sinnbildliche Weise. 

Heiraten und nachdenken

Dieser Befund aber ist heute wenig mehr als eine Binsenwahrheit. Seit die digitale Revolution und der Umgang mit Daten zu Topthemen unserer Tage geworden sind, ist auch die Gefährdung der Privatsphäre ein vielzitierter Topos. Doch was genau verändert sich in diesem Bereich, durch welche Akteure und mit welchen Konsequenzen? Das ist alles andere als klar, denn wenn es ums Private geht, herrscht häufig das Paradoxe.


Die Fragen fundiert zu erörtern, dürfte in Zukunft indessen nur noch wichtiger werden. In Zürich haben zurzeit gerade Heiratswillige die beste Gelegenheit, sich mit dem Thema zu befassen: Wer den Antrag überlebt hat und sich zur Eheschliessung im Stadthaus befindet, kann dort im zweiten Stock die Ausstellung «Privatsphäre – geschützt, geteilt, verkauft» besuchen. Natürlich steht die Schau auch allen anderen offen, und man möchte ihren Besuch allen Bürgern empfehlen: Hier geht es um Belange, die die Grundfesten unserer Gesellschaft berühren.

Zwei getrennte Daseinssphären, eine private Hinter- und eine öffentliche Vorderbühne: Dieses Konzept strukturierte lange unser Zusammenleben. Schon die Griechen kannten es. Im oikos, in der Hauswirtschaft, wurde gelebt und geliebt, gearbeitet und gegessen; auf der agora, dem zentralen Platz der Polis, haben die (wenigen dazu ermächtigten) Männer debattiert, um Vernunft gerungen, Politik gemacht. Später ging die strikte Scheidung der Sphären zurück. Bis in die Frühe Neuzeit hinein hatte das Denken in zwei verschiedenen Kategorien kaum mehr einen Sinn – die ständische Struktur definierte die Rolle eines jeden Menschen in allen Lebensbereichen. 

Wichtiger denn je 

Erst mit der Aufklärung und in den liberalen Ordnungen des Bürgertums kam die Idee des privaten und öffentlichen Raums zurück, und dies mit neuer Kraft. Das (männliche) Individuum war nun einerseits partizipierender Teil einer politischen Öffentlichkeit und andererseits ein Wesen, das, unter dem verbrieften Schutz von grundlegenden Rechten, in seinen eigenen vier Wänden nach persönlichem Gusto denken, glauben und leben konnte. Zentral dabei war freilich nicht nur die Trennung, sondern auch das Zusammenwirken der beiden Seiten: Nur wo sichere Rückzugsorte die Entwicklung eigener Ideen und Haltungen ermöglichten, konnten sozioökonomische Innovationen und insbesondere pluralistische Demokratien entstehen.

Physisch fand diese neue Öffentlichkeit ihren Raum in Cafés und Salons, auf Plätzen und in Zeitungen. Die Privatsphäre breitete sich derweil in den Häusern aus, wo die einzelnen Menschen zusehends mehr Platz für sich wollten und hatten: Zumindest im Bürgertum waren eigene Betten und separate Zimmer für verschiedene Familienmitglieder bald Normalität. Arbeiter dagegen mussten sich vielerorts noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts Bleiben mit 20 Betten teilen – doch ändert das nichts an der Gesamtrichtung der Entwicklung: Private Räume wurden im Verlauf der letzten 200 Jahre immer wichtiger; heute wird fast die Hälfte aller Zürcher Haushalte von einer Einzelperson geführt.

Um diese «maximale Privatsphäre» zu schützen, montieren wir Vorhänge und Rollos, wir züchten Hecken und schliessen die Läden – auf dass uns bloss kein fremder Vogel ins Gärtchen gucke. Betuchte wie Mark Zuckerberg kaufen ganze Nachbargrundstücke auf, um Neugierige auf Distanz zu halten, und egal, zu welcher Abschottungsstrategie man selber neigt, der Schluss scheint vollkommen klar: Offenbar ist uns das Private wichtiger denn je. Aber Zuckerberg . . . steht doch als Unternehmer für das glatte Gegenteil, und hier beginnt es nun mit den Paradoxen: Während wir einerseits immer geschützter leben, verliert das Private andererseits massiv an Boden.

In Zürich Aussersihl haben diese Eltern und ihre Kinder um 1909 ein einziges Zimmer zum Wohnen, Kochen und Schlafen zur Verfügung.
Bedroht wie eh 

Mächtige Akteure bedrohen heute unsere Privatheit. Das ist offensichtlich – im Prinzip aber nichts ganz Neues. Die Zürcher Ausstellung, die Historisches und Gegenwärtiges klug verflicht, macht das mit lokalen Beispielen deutlich. Allein im Zürcher Stadtarchiv, liest man etwa, lagern 55 000 Fichen von Menschen, die der hiesige Staat im Kalten Krieg überwachte. Dazu erfährt die Besucherin auch von einem Homosexuellen-Register, das die Stadt seit den 1950er Jahren führte und für Razzien und Repressionen benutzte. Im 20. Jahrhundert, heisst das mit anderen Worten, waren es die Staaten, die sich für das Privatleben der Bürger interessierten, Auffälligkeiten registrierten, Informationen sammelten – und daraus ihre Konsequenzen zogen.

Am blutigsten fielen diese Folgen in totalitären Systemen aus. Faschistische wie kommunistische Regime strebten die möglichst vollständige Vernichtung des Privaten an und eliminierten all das von der Staatsdoktrin abweichende Denken und Verhalten, das sich in geschützten Räumen eben entwickeln kann. Seine eigenen vier Wände brauchte der regimekonforme Bürger eigentlich nur noch für eines, wie ein hochrangiger NS-Funktionär erklärte: «Der einzige Mensch, der in Deutschland noch ein Privatleben führt, ist jemand, der schläft.»

Heute hat der Staat in unseren Breiten eine völlig andere Rolle: Man erwartet von ihm, dass er die Privatsphäre mit Gesetzen schützt gegen jene riesigen Firmen, die ihr Geld mit dem Sammeln persönlicher Daten verdienen. Ein Grossteil der zehn weltweit wertvollsten Unternehmen stammt inzwischen aus dem Daten- und Technologiesektor, und in dieser postindustriellen Ökonomie sind Informationen der Stoff, aus dem Gewinn entsteht. Ganz wie früher die Staaten haben die neuen Player daher alles Interesse, die private Sphäre möglichst stark zu durchdringen, und wenn die Motivationen vorerst völlig andere sind – das Unternehmen will a priori keine Ideologie durchsetzen, sondern seinen Profit maximieren –, so sind die Folgen doch verwandt: Die Tendenz zum nichtkonformen Verhalten sinkt.

Schutz ist daher fraglos nötig, aber ist der Staat die Instanz, die ihn effektiv gewährleisten kann? Informationen über die sexuelle Orientierung oder die politischen Präferenzen ihrer Bürger mögen unsere Behörden heute nicht mehr sammeln. An anderen Angaben aber hat die Verwaltung durchaus Interesse. Zu wissen, wann die städtischen Individuen wo ihr Velo oder Auto benutzen, kann beispielsweise der Verkehrsplanung dienen, und die vielzitierte Smart City wird ohne breite Datenbasis kaum je entstehen. Kurzum: Staatliche Behörden sind selber Teilnehmer in dem Spiel, das sie kontrollieren sollen. 

Auf neue Weise zerstört

Und es kommt noch komplizierter, denn auch der Bürger hat mehrere Gesichter und ist beileibe nicht nur das Opfer in einem grossen Schacher der Konzerne. Bei der Vorstellung, dem Auge eines grausamen Staates nur noch im Schlaf zu entkommen, dürften die meisten Menschen erschauern. Doch zugleich lassen sich heute ziemlich viele von ihnen selbst nachts überwachen und tragen Uhren am Handgelenk, die Herzschläge, Wachphasen und was sonst noch alles aufzeichnen und auswerten. Das geschieht in der Absicht, die eigene Gesundheit zu steigern, gewiss, aber auch für weniger hehre Ziele geben etliche Menschen Persönliches preis, wie im Stadthaus eine Filmsequenz zeigt: Ein Gratis-Mandelgipfel genügt als Köder, und schon reichen zahlreiche Kunden einem unbekannten Bäcker AHV-Nummern und Angaben zu Partnerschaften über die Theke.

Der vielbeschworenen Sorge um die von Riesenfirmen bedrohte Privatsphäre steht demnach die erschreckende Achtlosigkeit der mündigen Individuen gegenüber. Vor ein paar Jahren, als das Thema der privaten Daten im Zuge der Snowden-Affäre erstmals verbreitet aufkam, hat man noch annehmen können, dass es den Leuten an Wissen und Aufklärung fehle. Inzwischen muss man vermuten, dass sich viele Zeitgenossen jenseits des Wohnraums schlicht nicht um ihre Privatsphäre scheren. Oder schlimmer noch: sie geradezu mit Lust zerstören – der submarine Heiratsantrag auf Facebook lässt grüssen.

Persönliche Liebesbezeugungen in ein Millionenpublikum zu schleudern, wäre einst undenkbar gewesen. Klar, Scham und rigider Schutz der privaten Sphäre liessen es ehedem nicht einmal zu, sich öffentlich im Badekleid zu zeigen, und wenn sich die Sitten lockern und sich die Moral verändert, verschieben sich immer auch die Grenzen zwischen privaten und öffentlichen Bereichen. Doch zwischen der Freiheit, sich offener zu geben, und dem Drang, sich der Welt in allen Facetten zu zeigen, besteht ein wesentlicher Unterschied.

Zweifellos befeuern die sozialen Netzwerke den zweiten Trend, und so treiben sie die Vernichtung der Privatsphäre auf ungleich perfidere Weise voran als die smarten Unternehmer, denen sie gehören: Ja, das Private ist bedroht, weil professionelle Datensammler es absorbieren. Aber gänzlich verschwinden wird es erst dann, wenn wir selber es überall verbreiten.

Die Ausstellung «Privatsphäre – geschützt, geteilt, verkauft» im Stadthaus Zürich ist bis zum 29. Februar 2020 zu sehen.

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