Sonntag, 8. November 2020

Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte.

H. Daumier, Ratapoil
aus welt.de, 6. 11. 2020
 
So schwang sich der gewählte Präsident zum Kaiser auf
Am 2. Dezember 1851 putschte in Frankreich das demokratisch legitimierte Staatsoberhaupt Louis-Napoléon Bonaparte gegen das Parlament. Er stützte sich auf seine Anhänger, seinen Populismus – und auf Waffen.
 

Louis-Napoléon Bonaparte in Paris nach dem Putsch am 2. Dezember 1851

Ein gewählter Präsident unternimmt in seiner Amtszeit einen Staatsstreich und schwingt sich zum Alleinherrscher auf – derlei gibt es in der Geschichte der Usurpationen politischer Macht relativ selten. Noch weiß niemand, ob Donald Trump tatsächlich ähnlich handeln wird, falls die Auszählung der Präsidentschaftswahlen zu seinen Ungunsten ausgehen sollte. Doch es lohnt, den einzigen derartigen Fall zu betrachten, den es in den vergangenen Jahrhunderten in einem großen Staat gegeben hat.

Am 10. Dezember 1848 hatte Charles-Louis-Napoléon Bonaparte, der Neffe des im Rückblick längst glorifizierten Napoléon Bonaparte (1769–1821), die erste Präsidentschaftswahl in der zweiten französischen Republik gewonnen. Er hatte lediglich drei der größeren Zeitungen auf seiner Seite gehabt, während sein Hauptkonkurrent General Louis Cavaignac auf den Zuspruch von mehr als 100 Blättern setzen konnte und der radikale Mitbewerber Alexandre Auguste Ledru-Rollin immer noch von mehr als 40 Blättern protegiert wurde.

 

Louis-Napoléon in bürgerlicher Kleidung

Doch Louis-Napoléons Anhängerschaft bestand vor allem aus Schichten unterhalb des Bürgertums in den Städten, die ohnehin wenig Zeitungen lasen, und aus der Landbevölkerung, die eher vorpolitisch dachte. Weil diese beiden Gruppen zusammen fast drei Viertel der Wahlberechtigten stellten, hatte Louis-Napoléons einen deutlichen Sieg eingefahren.

 

 

Allein: Das genügte ihm nicht. Präsident einer Republik zu sein schien ihm von Anfang nicht angemessen, weshalb er sich „Prince-Président“ nennen ließ. Anfangs trat er dennoch nur im schwarzen Gehrock auf, wie es ihm sein liberal-konservativer Gegenspieler Adolphe Thiers im Bemühen um einen Ausgleich mit dem Wahlsieger empfohlen hatte.

„Louis-Napoléon wird sich diese Ermahnungen mit dem ihm eigenen Gleichmut und ohne eine Miene zu verziehen angehört haben“, schreibt der Historiker und Journalist Johannes Willms in seiner brillanten Biografie über Frankreichs letzten Kaiser: „Später, als Napoléon III., hat er davon oft unter Lachen erzählt.“


Das Militär löst die Nationalversammlung auf und nimmt Abgeordnete fest

Seine politischen Gegner, das wusste Louis-Napoléon sehr wohl, würden alles daransetzen, ihn und seine Ambitionen mittels der Verfassung „einzumauern“, ihn mit Willms‘ Worten „als Marionette zu benutzen, um ihn dann nach Ablauf seiner Amtszeit in der Versenkung verschwinden zu lassen“. Im Mai 1852 würde es so weit sein, und das wollte der „Prince-Président“ unbedingt verhindern.

Auf seine Anhänger konnte Louis-Napoléon vertrauen; sie jubelten ihm bei seinen öffentlichen Auftritten zuverlässig und massenweise zu. Dagegen wurde der Kampf gegen das Parlament, die Nationalversammlung, immer schärfer. Anfang August 1851 empfahl ihm sein Halbbruder (und Verbündeter) Charles de Morny einmal mehr, einen Staatsstreich gegen die Abgeordneten zu wagen. Diesmal antwortete der Präsident: „Ich bin Ihrer Ansicht; ich denke ernsthaft darüber nach.“

Zuschlagen wollte er eigentlich am 17. September 1851, aber zu dieser Zeit hielten sich die Mitglieder der Nationalversammlung noch in ihren Wahlkreisen auf, von wo aus sie leicht Widerstand organisieren konnten. Also wurde „der Termin auf die Zeit nach dem 4. November verlegt“, schreibt Willms, „wenn alle Abgeordneten wieder in Paris wären und man sie auf einen Schlag neutralisieren könnte“.



Der Staatsstreich löste Kämpfe aus – in Paris, mehr aber noch in den Provinzen

Eine verlorene Abstimmung im Parlament wurde dann die wesentliche Voraussetzung für den Putsch, denn nun konnte sich Louis-Napoléon als Verteidiger der Volksmassen gegen die Abgeordneten darstellen. Er fühlte sich politisch und moralisch bestätigt: „Erst wenn die ungeteilte Macht im Staat in seinen Händen läge, wäre das künftige Wohl Frankreichs gewährleistet“, fasst der Biograf die Überlegungen seines Protagonisten zusammen.

Den Tag X legte Louis-Napoléon auf den 2. Dezember fest, den 47. Jahrestag der Selbstkrönung seines Onkels zum Kaiser 1804. Das war natürlich symbolisch gemeint. In der Nacht zu diesem Dienstag marschierten Soldaten an allen strategisch wichtigen Punkten in Paris auf; 60.000 Mann mit mehr als 100 Geschützen dominierten die Hauptstadt. Alle Druckereien wurden besetzt, nur für den Präsidenten eingestellte Zeitungen konnten weiterhin erscheinen. Am Morgen dann verkündete Louis-Napoléon mehrere Dekrete, in denen er unter anderem die Nationalversammlung auflöste und eine neue Verfassung ankündigte.

Doch es gab Widerstand – in Paris angesichts der Präsenz des Militärs weniger als erwartet, dafür in den Gebieten außerhalb der Hauptstadt mehr. An einigen Orten ergriffen die Anhänger der Republik die Waffen und besetzten die Verwaltungszentren. Doch die Armee, die Louis-Napoléon treu ergeben war, warf die Aufstände binnen Tagen nieder. In ganz Frankreich wurden in den folgenden Wochen mehr als 27.000 Menschen festgenommen und angeklagt.


Napoléon III. als Sonnenkönig im Stil Ludwigs XIV. 

Kurz vor Weihnachten 1851 ließ sich Louis-Napoléon seine Maßnahmen in einem Referendum bestätigen, bei dem seine Anhängerschaft natürlich die Mehrheit errang – seine Gegner waren entweder inhaftiert (wie Adolphe Thiers) oder eingeschüchtert. Die Abstimmung ergab 7.481.231 Ja-Stimmen gegen 647.292-mal Nein; 1,4 Millionen Wahlberechtigte enthielten sich oder konnten nicht votieren, weil sie inhaftiert waren. Nur ein knappes Jahr später erklärte sich der Machthaber Louis-Napoléon zum Kaiser und nahm den Namen Napoléon III. an.

Der Staatsstreich von 1851 zeigt, dass auch demokratisch legitimierte Politiker sich auf einer Woge des Populismus zum Diktator aufschwingen können. Karl Marx widmete diesem Tag sein bekanntes Werk „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“; darin attackierte er 1852 den Kaiser scharf. Doch ist der Putsch gerade kein Beispiel für die Naturnotwendigkeit des Sieges der proletarischen Revolution, sondern ein Bewies, dass die Demokratie manchmal auch vor demokratisch legitimierten Politikern geschützt werden muss.

Johannes Willms: „Napoléon III.: Frankreichs letzter Kaiser“ (C. H. Beck Verlag München. 311 S., 19,95 Euro)

 

Nota. - Wenn einer was von Geschichte verstünde, weil sie ihn interessiert, könnte ihn das auf dumme Gedanken bringen. Aber der, an den Sie jetzt denken (wie gewiss auch der Redakteur der Welt), interessiert sich - gottlob, muss man sagen - für nichts als sich selbst. Dass man auch das einmal zu schätzen wüsste - wer hätte das gedacht?! 

 

Im übrigen: Was den Bonapartismus als politisches System auszeichnet, ist die gegenseitige Lähmung der ausschlaggebenden gesellschaftlichen Kräfte, die es einem Außenseiter - Glücksritter, "Mann der Vorsehung" - ohne eigenes Gewicht erlaubt, sich als Zünglein an der Waage dazwischen zu schieben und den Anschein einer Statur aufzuführen: 

Die proletarische Partei war während der Juniinsurrektion 1848 in Paris vom General Cavaignac blutig zerschlagen worden, ihre Überreste sammelte bei der Präsidentenwahl der linke Kleinbürger Ledru-Rolin auf. Und weer war der Kandidat der republikanischen Ordnungspartei? Kein anderer als der besudelte Cavaignac. Die große Masse der Parzellenbauern, die seit 1789 die große Mehrheit des französischen Volks ausmachte, hatte keinerlei Grund, ausgerechnet den zu wählen, auch nicht den Kandidaten der Verlierer, und um selber einen Repräsentanten voranzustellen, fehlt ihnen die Infrastruktur und vor allem ein über die eigene Parzelle hinausweisendes gemeinsames Interesse. Sie stimmen für einen starken Mann, dem sie zutrauen, sie vor den Geiern der Bankhäuser in Schutz zu nehmen. 

Die Handlanger fürs Grobe fand Louis-Napoleon im Pareiser Lumpenproletriat, aus dem er seine Dezemberbande rekrutiert hatte. 

JE

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