aus nzz.ch, 24.11.2020
Sie beobachtet in den USA und in Europa unter gebildeten jungen Leuten einen Überdruss an Wohl-stand und Freiheit. Und einen Selbsthass, den sie als Immigrantin nicht teilen kann. Ayaan Hirsi Ali hält die neuen akademischen Systemkritiker für Irrläufer – und erklärt im Gespräch mit René Scheu, warum die Eliten trotzdem mit ihnen paktieren.
Ayaan, lassen Sie uns gleich in medias res gehen, dahin, wo es weh tut. Sie sind schwarz, Sie sind eine Frau, Sie sind eine Feministin, Sie waren in Somalia Opfer einer echten patriarchalischen Gesellschaft. Warum werden Sie von den linksliberalen urbanen feministischen Eliten in den USA und anderswo trotzdem nicht umworben?
Ich denke, das liegt daran, dass ich deren Erwartungen zuverlässig enttäusche. Solche Enttäuschungen ist das mächtige linke Establishment in diesen konformistischen Zeiten kaum mehr gewohnt. Das macht sie ziemlich wütend.
Was haben Sie denn Böses gesagt?
Nichts, denn das liegt mir fern. Aber ich spiele ihr Spiel nicht mit. Ganz einfach: Ich weigere mich, das Opfer zu sein, das sie in mir sehen wollen. Würde ich es spielen, könnte ich alles bekommen, was ich will. Denn die akademischen Amerikaner sind geradezu besessen von den Themen Rasse und Sklaverei. Wenn ich sie daran erinnere, dass auch die Sklaverei eine Lieferkette kennt, hören sie weg und wechseln das Thema. Wo ich herkomme, wissen das alle: Auch Afrikaner versklaven Afrikaner, das war im 18. Jahrhundert so, als afrikanische Helfershelfer den Sklavenhändlern zuarbeiteten, und es ist heute so. Rassismus und Sklaverei zählen zum Schlimmsten, was die Menschen tun, seit es sie gibt, aber sie sind keine westliche Spezialität. Eine westliche Spezialität ist allerdings ein Leben in Freiheit.
Friedrich August von Hayek hat die Freiheit einmal mit der Luft für die Menschen verglichen: Man spürt sie nicht, wenn man sie hat. Man bemerkt sie erst, wenn man sie nicht mehr hat.
Ich sage freiheraus, was ich denke: Die westliche Kultur mit ihrer Entdeckung der Freiheit ist allen anderen Kulturen überlegen, in der Vergangenheit und auch in der Gegenwart. Sie hat es zustande gebracht, die Unterdrückung der Frau, den Feudalismus und das Stammesdenken zu überwinden. Sie hat gesellschaftliche Offenheit, politische Freiheit, technische Innovation und wirtschaftlichen Wohlstand geschaffen. Ich leugne nicht, dass andere Kulturen ebenfalls ihr Besonderes und Wertvolles haben – aber die Freiheit der westlichen Kultur ist für alle Menschen von unschätzbarem Wert. Das sage ich als gebürtige Somalierin. Und das hören die linksliberalen Eliten nicht gerne.
Das ist paradox, denn es ist genau diese Freiheit, die es ihnen erlaubt, die eigene Ordnung schlechtzureden und einen breiten Kulturrelativismus zu pflegen. Wer sich so unangreifbar weiss, hat gut reden.
Das stimmt. Und diese Eliten leiden an kognitiver Dissonanz. Sie haben ihr Narrativ, wonach die westliche Kultur bloss auf Unterdrückung, auf der Perpetuierung von Unterdrückern und Unterdrückten beruht. Und wenn dann plötzlich jemand aus einem echten Unrechtsstaat kommt, in dem Menschen systematisch unterdrückt werden, und ihnen sagt, dass sie falschlägen, wenn sie ihre eigene Kultur schlechtmachten und stattdessen fremde Kulturen idealisierten, nun ja, dann haben sie zwei Möglichkeiten. Entweder sie überdenken ihre Position. Oder sie diffamieren die Person, die solche unerhörten Dinge von sich gibt. Normalerweise tun diese Leute Letzteres – und machen die kognitive Dissonanz zum Dauerzustand.
Das tribale Denken greift allerdings auch in unseren Breiten um sich, und das war ja eigentlich die Pointe meiner Einstiegsfrage. Es wird in öffentlichen und zuweilen auch in privaten Diskussionen nicht mehr darauf geachtet, was jemand sagt, sondern bloss darauf, wer etwas sagt – wobei die Identität allein durch Gruppenzugehörigkeiten definiert wird. Als weisser heterosexueller Mann habe ich mittlerweile denkbar schlechte Karten – ich verkörpere das neue Klischee des Bösen par excellence.
Wir erleben durch einen Teil der Gesellschaft gerade die Dämonisierung des weissen Mannes. In jedem weissen Mann – so das hyperradikale linke Narrativ, das in den USA längst etabliert ist und in Europa auch immer weitere Kreise zieht – steckt ein Unterdrücker, ein Täter, ein Patriarch. Er vereinigt auf sich alles Geld und alle Macht der Welt. Was immer er sagt, steht deshalb unter Verdacht – er will damit bloss seine Machtstellung, seine Privilegien, seine Dominanz verschleiern oder rechtfertigen. Und ich frage mich tatsächlich, warum viele diesen Blödsinn einfach so hinnehmen. Wo bleibt der Widerstand?
Ein guter Punkt. Die meisten ziehen den Kopf ein. Doch indem man auch in kritischer Absicht ständig darüber schreibt, trägt man unfreiwillig zur Etablierung dieser Denkstereotype bei.
Das ist zu kurz gedacht. Denn dieses Narrativ wird auch stärker, wenn man es nicht entzaubert. Genau das ist es ja, was in den letzten Jahren geschah. Und es geht so, nach einer Art neo- oder vulgärmarxistischem Muster: Es gibt nur Unterdrücker und Unterdrückte, also Machtverhältnisse. Anders als im Marxismus ist es jedoch nicht die soziale Stellung, sondern die Gruppenzugehörigkeit, die darüber entscheidet, wo man in der Unterdrückungshierarchie steht. Es gibt keine Kommunikation zwischen den Kategorien und also auch keine Versöhnung, es gibt bloss den Kampf, und da sind alle Mittel erlaubt. Das sind keine Denkstereotype mehr, das ist längst zur echten Glaubenslehre geworden.
Hat sie einen Namen?
Nennen wir sie die Woke-Glaubenslehre: Je schwächer du angeblich bist, desto mehr Macht steht dir zu. Entweder du teilst diese Dogmen, und dann gehörst du dazu, zählst zu den Guten und Gerechten. Oder du weigerst dich, sie anzuerkennen, weil du von den Vorteilen einer individuellen Leistungs- und Kompetenzgesellschaft überzeugt bist, und gehörst zu den Abtrünnigen, die ihre Gnade verwirkt haben. Diese Religionslehre hat ihre Priester und Priesterinnen. Die wichtigste Priesterin in den USA heisst Alexandria Ocasio-Cortez – mit über zehn Millionen Followern auf Twitter.
Okay. Aber Hand aufs Herz – wer glaubt wirklich an diese Dogmatik? Das klingt nach einer sehr abgehobenen, weltfremden Lehre. Lassen sich der Mann oder die Frau von der Strasse davon überzeugen? Und glauben die Eliten ernsthaft daran?
Jetzt wird es interessant. Nehmen wir zuerst die Eliten. Es gibt die kulturellen Eliten, die auf ihren Bildungsbesitz achten, es gibt die wirtschaftlichen Eliten, die mehr auf ihren Profit schielen, und es gibt die politischen Eliten, die es auf ihre Macht abgesehen haben. Sie alle spielen das Spiel längst mit. Manche von ihnen fühlen sich schuldig, weil sie eben Geld, Bildung, Macht haben. Andere fühlen sich nicht schuldig, wollen sich aber nicht exponieren, sondern in Ruhe ihr Leben führen und ihren Besitz pflegen. Und nochmals andere fürchten sich vor der radikalen Rechten und sind im Prinzip für alles zu haben, was der Etikette nach aus der linken Ecke kommt. Deshalb schauen die Eliten zu, dulden die neue Glaubenslehre oder tragen sie pro forma sogar mit.
Das wäre dann reiner Opportunismus.
Natürlich. Und das gilt auch für den Mann oder die Frau von der Strasse. Wenn du unter harten Bedingungen bei Ben & Jerry’s Ice Cream arbeitest, während dein oberster Chef lauthals die gewaltbereite «Black Lives Matter»-Bewegung unterstützt, dann zuckst du innerlich zusammen. Du verspürst Wut. Aber am Ende schweigst auch du – weil du deinen Job nicht verlieren willst und eine Familie durchzubringen hast.
Wenn Sie recht haben, hiesse das, dass eine kleine Minderheit von Aktivisten alle anderen Bürger vor sich hertreibt.
So verhält es sich in der Tat. Sie schreien laut, sie sind sehr effektiv und höchst gefährlich. Sie finden Verbündete in den Eliten, die sich einen Nutzen von der neuen Glaubenslehre versprechen. Die setzen über alte Medien und soziale Netzwerke ganze Industrien, Firmen, Hochschulen und Parlamente moralisch unter Druck. Sie haben schon Lehrstühle und sitzen schon in Parlamenten. So hat sich ihr sprachliches Framing mittlerweile bis in den Alltag hinein durchgesetzt, alle reden die ganze Zeit von den Idealen von Ergebnisgleichheit, Inklusion und sozialer Gerechtigkeit. Und Leute wie Sie und ich, akademisch nicht unbeleckt, keine Profiteure des Systems, unabhängig, schütteln den Kopf. Aber gegenwärtig hört uns kaum jemand zu.
Sind Sie frustriert?
Nein. Ich bin im Reinen mit mir – und ich höre nicht auf zu sagen, was ich denke, und zu begründen, was ich sage. Und tief in meinem Innern bin ich überzeugt, dass diese ganze Woke-Glaubenslehre irgendwann so schnell verschwinden wird, wie sie gekommen ist. Sie ist wie Zuckerwatte: bunt, schrill, aber sie schmeckt zu süss, man kann nicht zu viel davon essen, weil einem sonst schlecht wird, und der intensive Geschmack vergeht im Nu.
Was macht Sie da so sicher?
Umschwünge gehen heutzutage schnell vonstatten, gleichsam über Nacht. Ich erinnere mich an die Partei der Arbeit, eine stolze sozialdemokratische Partei in den Niederlanden. Sie hat über hundert Jahre lang beachtliche Ergebnisse erzielt, des Öfteren den Ministerpräsidenten gestellt. In den Wahlen von 2017 sackte sie aber völlig ab – und dürfte sich von dieser Niederlage kaum mehr erholen. Ähnliches geschah mit der SPD in Deutschland und mit der Labour Party unter Jeremy Corbyn in Grossbritannien. Werden die Parteien zu Sekten, verlieren sie plötzlich den Rückhalt der meisten ihrer Wähler.
Sie reden von Glaubenslehre und Sekten. Das wirkt zunächst eher paradox – sind denn die Leute, die der Wokeness anhängen, nicht betont atheistisch unterwegs?
Doch, das sind sie. Die neue Glaubenslehre duldet keinen Gott über oder neben sich. Insofern ist sie keine Religion, sondern eher eine Form des aggressiven New Age, also ein Religionsersatz. Sie hat einen einseitigen Blick auf die Geschichte des Westens, die ihrer Meinung nach allein auf Rassismus, Ausbeutung und Kolonialismus beruht. Was Ihnen Ihre Eltern hoffentlich beigebracht haben – hart zu arbeiten, das Gesetz zu beachten, das Eigentum anderer zu respektieren –, all diese Tugenden gelten den neuen Jüngern nichts mehr. Sie nennen es «whiteness» und wollen es überwinden. Und zuletzt lehnen sie das jüdisch-christliche Erbe radikal ab – und machen die Traditionen schlecht.
Wenn ich Sie so reden höre, denke ich an Revolutionäre, an eine Art postmoderne Jakobiner. Ist das, was diese Leute antreibt, der Hass auf die eigene Kultur?
Zweifellos – an der Oberfläche. Der Selbsthass, die Selbstscham wird zur Schau getragen. Dahinter verbirgt sich aber eine eigenartige Form eines moralischen Überlegenheitsgefühls, nach der Logik: Wer sich erniedrigt, erhöht sich zugleich. Er liebt sich im Selbsthass. Er ist der moralische, erhabene, unfehlbare Mensch, der letztlich auf alle anderen herabsieht.
Sie sind muslimisch erzogen worden. Sind Sie denn selbst gläubig?
Nein. Ich bin nicht fromm. Ich habe die Religion meiner Eltern hinter mir gelassen. Aber ich unterschätze nicht das Potenzial, den Wert und die Funktion von Religion. Ich würde nie im Leben sagen, dass Religion nur etwas für die Dummen sei, wie viele Intellektuelle glauben.
Obama sprach in diesem Sinne, als er einmal über die Arbeiter sagte, sie würden sich mitunter «an Waffen oder Bibeln klammern», wenn es ihnen schlecht gehe. Die christliche Religion ist für Obama so etwas wie der Strohhalm der Verzweifelten – und viele, die sich zum Establishment zählen, denken so. Oder sie denken, der Glaube führe automatisch zu Intoleranz und Gewalt. Aber das ist eine sehr verkürzte Sicht der Dinge. Religion stiftet Gemeinschaft, bringt Leute zusammen, macht sie zu selbstbewussten Individuen, weil sie sich von Gott angesprochen, geliebt und getragen fühlen. Es war diese Dimension, auf die ich einmal neidisch war.Wie meinen Sie das?
Ich erinnere mich, wie ich meinem Vater, der in den USA und Italien studiert hatte, sagte: Schau dir die Frauen in christlichen Ländern an, sie sind frei zu tun, was immer sie wollen. Schau dir die wissenschaftlichen Errungenschaften an. Schau dir den Wohlstand und die Liberalität an. Und dann schau dir an, was die islamische Kultur erreicht hat. Schau, wie sie mit Frauen umgeht. Man hatte mir beigebracht, dass meine Kultur allen anderen überlegen sei. Aber das war empirisch falsch, und das liess mir keine Ruhe. Ich ertrug die kognitive Dissonanz nicht länger, und 1992 gelang es mir, nach Europa zu flüchten.
Es war für Sie das gelobte Land.
Ja, zu Beginn. Die Leute waren damals noch stolz auf ihr Gemeinwesen, auf ihre politische Kultur, die Marktwirtschaft, die Demokratie. Seither hat sich im mentalen Haushalt der Leute viel verändert, in Europa und den USA. Der Wohlstand ist weiter gestiegen, aber es ist, als hätte sich eine grosse spirituelle Leere ausgebreitet. Und nichts vermag diese Leere zu füllen. Schauen Sie – als ich fünfzehn, sechzehn Jahre alt war und es unserer Familie an allem fehlte, fragte ich mich: Warum tut Gott uns das an, warum lässt er uns leiden? Was ist der Sinn meines Lebens, warum wurde ich geboren? Die Leute im Westen sind materiell saturiert, die meisten haben zu viel Geld, zu viel Unterhaltung, zu viel Technologie, zu viel Freizeitangebote. Aber sie stellen sich irgendwann immer noch dieselbe Frage – was soll das alles? Worum geht es eigentlich? Sie spüren die Leere weiterhin, und das macht sie fast wahnsinnig.
Verstehe ich Sie richtig – Sie sagen, dass die meisten im Westen nicht aus Not, sondern aus Überdruss zu Systemkritikern werden?
Bestimmt. Es geht ihnen zu gut, nicht zu wenig gut. Sie leiden nicht an Mangel, sondern an Überfluss. Die Woke-Leute sind letztlich Nihilisten, die diese Leere spüren und sagen: Es geht um nichts, es gibt keinen Sinn des Lebens, lasst uns das ganze System niederreissen. Aber natürlich gibt es auch die, die an den Lippen von Autokraten, Tyrannen und Imamen hängen, die ihnen versprechen, ihrem Leben einen Sinn zu geben. Der jüngst verstorbene Schriftsteller und Philosoph Roger Scruton, ein treuer Freund, der mir sehr fehlt, pflegte zu sagen: Wenn wir unsere innere Leere nicht selbst füllen, dann werden sie andere füllen.
Wie füllen Sie Ihre Leere?
Konservative haben es bestimmt leichter als Progressive, auch wenn sie wie ich nicht an Gott glauben. Ich liebe meine Familie, für die ich sehr dankbar bin. Und ich pflege Umgangsformen und Traditionen, ich lebe wie eine funktionale Christin: nicht im eigentlichen Sinne fromm, aber aufgehoben in einer Alltagskultur.
Sie waren einst Muslimin, Sie wurden zur Atheistin – und heute sind Sie eine Kulturchristin.
Ganz konkret: Ich glaube, dass Sie, René, ein guter Mensch sind und dieses Interview mit den besten Absichten führen. Und Sie glauben, dass ich Ihnen nach bestem Wissen und Gewissen Red und Antwort stehe. Ich traue Ihnen, Sie trauen mir, wir haben eine implizite Vereinbarung. Wir teilen unsere Gedanken für diese Zeit, wir behandeln uns mit Respekt und Anstand, wir teilen bestimmt manche Ansichten, in vielen Fragen sind wir uns jedoch nicht einig, aber wir lernen voneinander – das ist es, was dem Leben Freude und Fülle gibt.
Ayaan Hirsi Ali
ist 1969 in Mogadiscio, Somalia, geboren. 1992 reiste sie über
Deutschland in die Niederlande ein. Sie studierte Politikwissenschaften,
1997 wurde ihr die niederländische Staatsbürgerschaft verliehen. Im
Jahr 2003 wurde sie für die liberal-konservative Volkspartei für
Freiheit und Demokratie (VVD) ins niederländische Parlament gewählt.
Seit 2006 lebt sie in den USA, ist seit 2013 amerikanische
Staatsbürgerin und arbeitet gegenwärtig als Research Fellow an der
Hoover Institution in Stanford. Ayaan Hirsi Ali ist mit dem Historiker
Niall Ferguson verheiratet. Zu ihren jüngeren Publikationen zählen
«Reformiert euch! Warum der Islam sich ändern muss» (Penguin-Verlag,
2016) und «Ich klage an: Für die Freiheit der muslimischen Frauen»
(Piper-Verlag, 2010).
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