aus Tagesspiegel.de, 22. 11. 2020
von Michael Bröning
In der Wahlforschung galt jahrzehntelang als ausgemacht: Menschen mit Migrationshintergrund, Neueinwanderer und sichtbare Minderheiten wählen links. Im Vereinigten Königreich etwa unterstützen Ende der 1990er Jahre annähernd 90 Prozent der „ethnischen Minderheiten“ die Labour Party.
In den Vereinigten Staaten wurde Barack Obama 2008 von rund 90 Prozent der Black Votes ins Weiße Haus entsandt und auch in Mittel- und Nordeuropa galt die Stimmabgabe von Einwanderern und ihren Nachkommen für Mittelinksparteien über ein halbes Jahrhundert lang als ehernes Gesetz.
Die verbreitetste Erklärung: Gerade neue Einwanderer sowie diskriminierte Minderheiten seien besonders an sozialer Unterstützung, einer Verteilung des Wohlstandes und nicht zuletzt an einer weltoffenen Ausrichtung ihrer neuen Heimat interessiert. So verstanden, spiegelte die Unterstützung linker Parteien ein wohlverstandenes Eigeninteresse.
In der Realität aber führte diese Vermählung mit der Linken bisweilen zu einem Paradox: Manch ein Wähler, der etwa in Mitteleuropa für progressiv-säkulare Parteien stimmte, unterstützte im Herkunftsland beharrlich religiös-konservative Kräfte. Das Resultat: Parteianhänger, die zwar links wählten, aber bezogen auf zentrale soziokulturelle Werte wie die Frage der Gleichbehandlung der Geschlechter nicht links waren.
Die Neigung von Einwanderern nach links ist kein aktuelles Phänomen. Schon 1787 warnte Thomas Jefferson, dass Einwanderer „die Prinzipien der Regierungen, die sie hinter sich lassen“ ins Land importierten – eine These, die noch heute gerne auf der Rechten zitiert wird. Im Sommer dieses Jahre etwa fragte das konservative Cato-Institut in den USA besorgt, wie sehr Einwanderer des 20. Jahrhunderts die Vereinigten Staaten ideologisch nach links gerückt hätten. Die Umsetzung des New Deal erscheint darin als Konsequenz der wohlfahrtstaatlichen Neigungen europäischer Auswanderer.
Angesichts der wachsenden Bedeutung der nicht-weißen Wählerschaften in westlichen Demokratien wird die Frage der politischen Ausrichtung von Minderheiten immer relevanter. In den USA sind über 23 Millionen Wahlberechtigte direkte Einwanderer. Und in Deutschland betrug der Anteil von Wählern mit Migrationshintergrund in der letzten Bundestagswahl immerhin rund 10 Prozent.
Das historische Arrangement mit der Linken scheint brüchig zu werden - und zwar weltweit. In den zurückliegenden US-Präsidentschaftswahlen wurde dies besonders deutlich: Eine Vielzahl von Latinos und schwarzen Wählern unterstützte nicht Joe Biden, sondern votierte für den Amtsinhaber.
Zwar hielt eine große Mehrzahl den Demokraten die Treue, doch selbst 35 Prozent der muslimischen Wähler stimmten für Trump – ebenso wie fast ein Drittel der asiatisch-stämmigen Amerikaner. Ein progressiver Block der People of Color erwies sich als Chimäre.
Der Trend ist nicht neu: Schon vor vier Jahren hatten Wahlforscher auf den überraschend starken Rückhalt verwiesen, den Trump in der kubanischen Community oder unter vietnamesischen Amerikanern genoss. Eine vergleichbarere Entwicklung findet auch außerhalb der Vereinigten Staaten statt.
Im Vereinigtes Königreich etwa ist der Anteil der Labour-Unterstützer unter schwarzen Wählern und ethnischen Minderheiten im zurückliegenden Wahljahr auf 64 Prozent zurückgegangen. Zwar ist das immer noch eine stattliche Mehrheit, aber zugleich eben auch ein Einbruch von rund 20 Prozentpunkten in zwei Jahrzehnten.
Und in Frankreich? Dort ist die jahrzehntealte Unterstützung der Parti Socialiste durch muslimische Wähler ebenfalls weitgehend Geschichte. Wurde der sozialistische Präsidentschaftskandidat François Hollande 2012 im zweiten Wahlgang noch von 86 Prozent der Muslime gewählt, fiel dieser Anteil in den Präsidentschaftswahlen vor drei Jahren auf unter 20 Prozent.
Selbst in Neuseeland erweist sich die These vom links wählenden Einwanderer als überholt. In den Wahlen im Oktober neigte eine Mehrheit der zahlenmäßig besonders starken chinesischen Einwanderer nicht der progressiven Jacinda Ardern zu, sondern ihrer konservativen Rivalin Judith Collins. Warum ist das so?
Entscheidend erscheint hier der Faktor Zeit. Untersuchungen aus den Vereinigten Staaten belegen, dass der Zeitpunkt der Einwanderung für das Wahlverhalten entscheidend ist. Je weiter die eigene Migrationserfahrung in der Vergangenheit liegt, desto stärker nähert sich das Wahlverhalten an die Ursprungsgesellschaft an. So betrachtet, erscheint die Abwendung vom linken Automatismus als paradoxes Indiz für den Erfolg der politischen Integration.
Schließlich scheint der politische Orientierungswechsel für manche Wähler den Wandel der eigenen Wahrnehmung hin zum arrivierten Staatsbürger zu illustrieren. Und: In Zeiten, in denen Milieus auch in der Mehrheitsgesellschaft volatiler werden, differenziert sich eben auch das Wahlverhalten von Einwanderern und Minderheiten weiter aus.
Dabei scheinen gerade kulturelle Fragen stärkere Bedeutung zu erlangen. So dürfte sich in den USA etwa die skeptische Sicht konservativer Christen aus Lateinamerika auf liberale Abtreibungspraktiken negativ auf die Strahlkraft der Demokraten ausgewirkt haben. In Frankreich hingegen trieb nicht zuletzt der sozialistische Einsatz für die gleichgeschlechtliche Ehe einen massiven Keil zwischen kulturkonservative Muslime und die linke Mitte.
Der Spagat aus wertekonservativen migrantischen Wählern und progressiver Parteiprogrammatik gerade in identitätspolitischen Themen ließ sich letztendlich nicht durchhalten.Dabei gilt aber auch: Innerhalb der Minoritäten sind die politischen Unterschiede oft stärker ausgeprägt als die zur Mehrheitsgesellschaft. Nicht zuletzt das scheint der Grund dafür zu sein, dass sich spezifische Parteien für Minderheiten in westlichen Demokratien bislang nicht durchsetzen konnten.
Zwar wirbt in den Niederlanden seit 2015 die Partei „Denk“ dezidiert um türkischstämmige Wähler. Und auch in Frankreich bemüht sich eine Union des Démocrates Musulmans Français um muslimische Stimmen auf der Linken. Die Resonanz aber ist dürftig. In den Niederlanden liegt Denk im niedrig einstelligen Bereich. In Frankreich kam die Muslimpartei in den Europawahlen auf gerade mal 0,13 Prozent.
Auch diese Ergebnisse belegen: Einwanderer und ihre Nachkommen sind kein einheitlicher Block. Insbesondere der Mythos der automatisch linken Minderheitenstimme entspricht nur noch eingeschränkt der Wirklichkeit. Offensichtlich kann sich manch ein Politanalyst Wählerinnen und Wähler mit Migrationshintergrund und Angehörige ethnischer Minderheiten nur als Gefangene ihrer eigenen Biografie ausmalen, nicht aber als die selbstständigen und komplex abwägenden Akteure, die sie sind.
Nota. - Es tut weh, aber es lässt sich nicht ändern: Links nennen sich nur noch Leute, denen es nicht zusteht, aber es macht ihnen keiner streitig, weil es Leute, denen es zustünde, nicht mehr gibt.
Links nannten sich und wurden genannt die Leute, die mehr oder minder aktivistisch an der Revolution arbeiteten, der bürgerlich-demokratischen zuerst, doch seit dem Juni 1848 der roten und sozialen. Und je entschiedener die auftraten, umso schmählicher wurde es, in guter Gesellschaft als links zu gelten. "Geht doch rüber in den Osten!" rief man den ostermar-schierenden Friedensfreunden in Adenauers Zeiten zu, dabei war denen alles Revolutionäre fremd; zumal den unterwandernden heimlichen KPD-Sympathisanten, die ihren Seelenfrieden in der reaktionären Spießeridylle des ersten Friedensstaats auf deutschem Boden gefunden hatten. Deutsche Sozialdemokraten waren von Herzen entrüstet, als links verunglimpft zu werden. Und sie waren's wirklich nicht, sie waren atlantischer, als Adenauer sich je entblödet hätte.
Als sie dann selber regierten, nannte Willy Brandt, der Vater der Hamburger Erlasse alias Be-rufsverbote, sich auf einmal links, und die inzwischen legale DKP ließ es durchgehen, weil er auf dem Weg war, ihren Friedensstaat anzuerkennen, und linker war sie selber nicht. Links war schon kein Politikum mehr, sondern ein Lifestyle, in dem sich eine Bekentnnisgemeinde zu-sammenfand. Ihr zusehnds härterer, zumindest korpulenterer Kern war jener Teil der Öffent-lichen Dienstes, der im Bildungs- und Kulturbetrieb sein Auskommen hatte und den autono-meren Randgruppen Zugänge zur Staatsknete vermitteln konnte. Denn wenn sie auch rituell Steine warfen - fürs eventuell Revolutionäre waren und sind sie bis heute viel zu saturiert.
Und je saturierter, umso zugänglicher den moralischen Erpressungen der noch Mindersatu-rierten. Solidartität heißt das dann, und korrekte Gesinnung muss sich daran messen lassen. Ihr Verhältnis zu Ordnung und Schweinesystem ist nicht subversiv, sondern zehrend. Die sind so revolutionär wie die Rettungsringe am Bauch von Robert Habeck.
JE
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