aus nzz.ch, 27.11.2020
Er beherrscht ein Dutzend Sprachen aktiv und zahlreiche weitere passiv. Als Autodidakt macht er sich auf mehreren Gebieten einen Namen. Er schreibt für Journale weltweit, so auch für die «New York Tribune», die der frisch gegründeten Republikanischen Partei nahesteht und mit ihr die Sklaverei bekämpft. Seine intimen Kenntnisse des Militärwesens tragen ihm den Spitznamen «General» ein.
Als Kaufmannsgehilfe bringt er einen promovierten Philosophen dazu, sich Hals über Kopf in die politische Ökonomie zu stürzen. Das als Folge davon entstehende Werk, als dessen stiller Teilhaber er sich im gemeinsamen «Compagniegeschäft» fühlt, prägt wie kein anderes das 20. Jahrhundert. Schon zu Lebzeiten avancieren die Kompagnons zu Galionsfiguren des Sozialismus, danach zu dessen Säulenheiligen.
Am 28. November 2020 wäre Friedrich Engels 200 Jahre alt geworden. Seinem zum Pietismus neigenden Vater, Textilfabrikant in Barmen (heute Wuppertal), missfallen die humanistischen und liberalen Anwandlungen des begabten Schülers. Ein Jahr vor dem Abitur steckt er ihn zur Lehre in die eigene Firma. Friedrichs Radikalisierung nimmt ihren Lauf. Ihn empören das soziale Elend der Arbeiterschaft und die Selbstgewissheit und stählerne Härte der Fabrikanten.
Er verschlingt die Schriften französischer Früh- und utopischer Sozialisten. Seine Ausbildung als Kaufmann komplettiert er von 1842 bis 1844 in einer Fabrik bei Manchester, deren Miteigentümer sein Vater ist. Er lernt das Fabriksystem, eine moderne Form der «Sklaverei», und den Handel von der Pike auf kennen und entwickelt eine tiefe Abneigung gegenüber dem Gewerbe und der Frömmelei seiner Betreiber.
In der Kuppel der Manchester Cotton Exchange heisst es offenbar nicht grundlos: «Who would find eternal treasure, must use no guile in weight or measure.» Engels nimmt Kontakt zu Sozialisten und Chartisten um Robert Owen auf, liest die Schriften der ricardianischen Sozialisten und die Werke der klassischen Ökonomen Adam Smith und David Ricardo. Bei Besuchen von Fabriken und Wohnvierteln der Arbeiterschaft studiert er deren Arbeits- und Lebensbedingungen.
Zurück in Barmen, veröffentlicht er 1845 «Die Lage der arbeitenden Klasse in England», ein Pionierwerk der empirischen Sozialforschung. Darin, so Papst Benedikt XVI. in der Enzyklika «Spe Salvi» von 2007, werde das Los der Industriearbeiter «in einer erschütternden Weise geschildert».
Aber nicht nur einen Papst beeindruckt Engels. Sein in Manchester verfasster Essay «Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie» erscheint 1844 in den von Marx mitherausgegebenen «Deutsch-Französischen Jahrbüchern». Marx nennt ihn eine «geniale Skizze» und wendet sich der politischen Ökonomie zu, um das «Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft» zu entschlüsseln.
Im Essay rechnet der gerade 23-jährige Engels ungestüm mit der «Bereicherungswissenschaft» ab. Entstanden «aus dem gegenseitigen Neid und der Habgier der Kaufleute», trage sie «das Gepräge der ekelhaftesten Selbstsucht auf der Stirne». Ihre Vertreter, allesamt «Heuchler», suchten «unsittliche» Verhältnisse zu legitimieren. Was aber ist die Ursache der untragbaren Zustände, und wie sind diese zu überwinden? Es gehe um nichts Geringeres als um die Schicksalsfrage der Menschheit – um die «Versöhnung der Menschheit mit der Natur und mit sich selbst».
Das Grundübel, darin stimmt Engels Pierre-Joseph Proudhon zu, sei das Privateigentum. Es bewirke Markt und Konkurrenz und sei verantwortlich für Not und Elend der Arbeiterklasse. Nur seine Abschaffung erlaube die Rückkehr zu einer sittlichen Sozialordnung der Gleichen und Freien, wie sie in früheren Stammesgesellschaften geherrscht habe.
Aber besteht Grund zur Hoffnung? Engels ist optimistisch: Die «totale Umgestaltung der sozialen Verhältnisse», Ergebnis der Selbsttransformation der Gesellschaft, stehe unmittelbar bevor. Mit der Einführung von Gemeineigentum reinige sich die Welt von der Sünde. Engels argumentiert wie folgt: Der gesellschaftliche Antagonismus spitze sich im Lauf der Zeit zu. Einer kleinen, ständig reicher werdenden besitzenden Klasse stehe eine wachsende Klasse von «Proletariern» und «paupers» gegenüber.
Periodische Handelskrisen und technologisch bedingte Arbeitslosigkeit verstärkten den Konflikt, bis dieser sich schliesslich in einer «sozialen Revolution» entlade. Das Versagen der Ökonomen werde offenkundig. Besonders empört Engels die Bevölkerungstheorie des anglikanischen Pfarrers und Ökonomen Thomas Robert Malthus, der Arme und Elende für ihr Schicksal selbst verantwortlich macht.
Dies sei der Gipfel christlicher Frivolität und zudem blanker Unsinn. Kein allgemeiner Mangel an Unterhaltsmitteln sei das Problem, wie Malthus mit seiner Lehre von den abnehmenden Ertragszuwächsen in der Landwirtschaft und überschiessendem Bevölkerungswachstum behaupte. Schon das Nebeneinander von Armut und Elend und Reichtum und Überfluss strafe seine Sicht Lügen.
Das Problem sei die ungerechte Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Malthus unterschätze aufs Ärgste die von Wissenschaft und Technik ermöglichte Steigerung der Arbeitsproduktivität: «Die Wissenschaft aber vermehrt sich mindestens wie die Bevölkerung [. . .] in geometrischer Progression – und was ist der Wissenschaft unmöglich?»
Der apokalyptische Reiter Malthus jage einem Hirngespinst nach! Bei laufend steigender Produktivität verlören die Probleme der Güterknappheit und Verteilungsgerechtigkeit an Bedeutung. Die Ausbeutung von Menschen durch Menschen sowie der Besitzindividualismus stürben ab. Engels, der glühende Fortschrittsoptimist, singt ein Hohelied auf die grossen Erfinder des Industriezeitalters.
Auf die Frage, wie Produktion und Verteilung ohne Märkte in grossen, arbeitsteiligen Gesellschaften im Unterschied zu Stammesgesellschaften zu organisieren seien, kommt Engels wiederholt zu sprechen. So auch in seiner 1884 veröffentlichten Schrift «Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats». Zwar erkennt er scharfsinnig die sich ergebenden Informations- und Koordinationsprobleme, aber irgendwie hofft er darauf, diese würden sich von selbst lösen. Im Essay belässt er es bei dem gutgemeinten, aber naiven Rat: «Produziert mit Bewusstsein, als Menschen, nicht als zersplitterte Atome ohne Gattungsbewusstsein.»
1844 besucht er Marx in Paris. Es ist der Beginn einer lebenslangen engen Freundschaft und einer intellektuellen und politischen Zusammenarbeit. Zusammen mit Marx verfasst er mehrere Streitschriften und dann 1848 im Auftrag des gerade in London gegründeten Bundes der Kommunisten das «Manifest der Kommunistischen Partei».
Dieses enthält unter anderem eine Analyse der ungeheuren Dynamik des schliesslich die ganze Welt umspannenden Kapitalismus, der auch Kritiker nicht die Anerkennung versagen. Zunächst nur in kleinem Kreis zirkulierend, entfaltet das Manifest gegen Ende des Jahrhunderts eine wachsende politische Wirkung.
Im Lauf seiner Beschäftigung mit der politischen Ökonomie entwickelt Marx einige der in den «Umrissen» enthaltenen Überlegungen und verwirft andere. Seine Unterscheidung zwischen «klassischen» und «Vulgärökonomen» unterminiert das Pauschalurteil seines Freundes: Ersteren zollt er merkliche Hochachtung ob ihrer Untersuchung der «Physiologie der bürgerlichen Gesellschaft», während Letztere sich nur an der «Oberfläche der Phänomene» herumtrieben. Über das Schicksal der kapitalistischen Produktionsweise entscheide die langfristige Tendenz der allgemeinen Profitrate, ein zentrales Konzept, das in Engels’ Essay nicht vorkommt.
Engels arbeitet als politischer Publizist, bis ihn 1850 die Firma Ermen & Engels als Angestellten verpflichtet. 1864 wird er Teilhaber der Firma, scheidet aber aus der aktiven Arbeit 1869 und als Teilhaber 1875 aus, danach lebt er als Rentier und Börsianer. Während all der Jahre unterstützt er Marx und dessen Familie finanziell.
Im Verlauf der Zeit äussert er sich zu einem bunten Strauss von Themen, darunter zum gescheiterten deutschen Bauernaufstand von 1525, zum Krimkrieg, zur indischen Revolution, zum amerikanischen Sezessionskrieg, zur Wohnungsfrage, zur deutschen Reichsverfassungs-kampagne, zur Entwicklung von Waffentechnik und zu militärischer Taktik und Strategie und schliesslich auch zur materialistischen Philosophie. Und er setzt sich für die Rechte der Frauen ein. In der Schrift «Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft» (1880) propagiert er das Konzept des «wissenschaftlichen Sozialismus».
Marx spornt er dazu an, endlich die Bände II und III des «Kapitals» fertigzustellen. Aber die Vollendung des Opus magnum will diesem nicht gelingen. Als Engels nach dem Tod des Freundes 1883 dessen literarischen Nachlass sichtet, muss er erkennen, dass Marx bezüglich einiger Teile seiner gewaltigen Konstruktion Zweifel gekommen sind und er sich festgebissen hatte. Insbesondere: War die Begründung einer tendenziell fallenden Profitrate wirklich stichhaltig?
Engels oblag es, aus dem Berg an Manuskripten und Fragmenten zwei einigermassen kohärente Bände zu formen. Fast zehn Jahre härtester editorischer Arbeit waren nötig, um die Aufgabe zu bewältigen: 1885 erscheint Band II, 1894 Band III des «Kapitals». In Übergängen und Anmerkungen, die er in den Text einfügt, hegt Engels das von Marx gelegentlich gezeigte Zaudern ein, wohl um keine Zweifel an der politischen Mission aufkommen zu lassen. Er wird seine Interventionen als zulässigen Freundschaftsdienst verstanden haben, als Arbeit am Lebenswerk des übermächtigen Freundes, in dessen Schatten er ein Leben lang stand – zu Unrecht. Engels stirbt am 5. August 1895 in London.
Als
Einführung ins Werk von Friedrich Engels empfehlen sich: E. Illner,
H. Frambach und N. Koubek (Hg.): Friedrich Engels. Das rot-schwarze
Chamäleon. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, Darmstadt 2020.
R. Lucas,
R. Pfriem und H.-D. Westhoff (Hg.): Arbeiten am Widerspruch – Friedrich
Engels zum 200. Geburtstag. Metropolis-Verlag, Marburg 2020.
Heinz D. Kurz ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Karl-Franzens-Universität Graz und Fellow des Graz Schumpeter Centre.
Nota. - 'Die Reinigung der Welt von der Sünde' - da steckt mehr hinter als diese Kurzskizze ahnen lässt. Marx ist tatsächlich auf dem Weg der reinen Ideen zur Revolution gelangt; bei Engels aber steckte ein existenzielles Motiv dahinter. Sein verhasster hartherziger Vater war ein besonders bigotter Vertreter des wuppertalschen Pietismus, und zugleich ein Kapitalist ohne Skrupel. Prof. Kurz wollte dem biographischen Detail zurecht nicht zuviel Gewicht beimes-sen. Aber ganz unterwähnt muss es in Sachen Sünde nicht bleiben, denn Heuchelei ist deren schändlichste.
JE
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