Die muslimisch-arabische Geschichtsschreibung war nie blind für die Auseinandersetzungen, welche die Expansion des Islams seit seiner Entstehung im siebten Jahrhundert begleiteten. So wurde die Ära der politisch motivierten Gewalt in der Entstehungszeit des Islams bereits von frühen Biografen beschrieben, zum Beispiel von Abd al-Malik Ibn Hisham (gestorben um 830) in «Die Biografie des Propheten» oder vom Historiker al-Waqidi (gestorben 822) in seinem «Buch der Feldzüge», in dem er die Beutezüge und Racheaktionen des Propheten als Kriege bezeichnete.
Diese Kampfhandlungen fanden statt, nachdem Mohammed im Jahr 622 Mekka verlassen und in Medina ein politisch-religiöses Gemeinwesen gegründet hatte. Ab diesem Zeitpunkt waren die Feinde der neuen Religion nicht mehr nur arabische Heiden und Ketzer, sondern auch Anhänger der anderen monotheistischen Religionen.
Einschüchterung durch Mord
Am 4. September 624 liess Mohammed den Dichter Kaab Ibn al-Ashraf, einen der Anführer des jüdischen Stammes Banu an-Nadir, hinrichten. Dieser war sein Widersacher und verfasste Schmähgedichte über ihn und seine neue Gemeinde. Der Prophet soll seinen Anhängern befohlen haben: «Wer erlöst mich von Kaab Ibn al-Ashraf? Denn er hat Gott und seinen Propheten gekränkt.» Mohammeds Getreue folgten seinem Ruf, töteten den Dichter, trugen seinen abgetrennten Kopf zu Mohammed und riefen dabei: «Allahu akbar!» Er unterbrach sein rituelles Nachtgebet und rief ebenfalls: «Allahu akbar!» Dieser Meuchelmord gilt für konservative islamische Theologen als Vorbild für die Ermordung der Kritiker und der Beleidiger des Propheten.
Bereits vor diesem Vorfall wurde im März 624 die jüdische Dichterin Asma Bint Marwan auf Geheiss Mohammeds ermordet. Auch sie war eine Gegnerin des Propheten und schrieb Schmähgedichte gegen ihn und seine Anhänger. Der greise Abu Afak, ein jüdischer Proselyt, erlitt das gleiche Schicksal wegen seiner Gedichte und seiner politischen Opposition, die dem Propheten ein Dorn im Auge waren. Solche Morde hatten ihren Zweck: Sie sollten Gegner einschüchtern und eine Atmosphäre der Furcht unter den Kritikern des Propheten schüren.
Eine religiöse Legitimation für die Hinrichtung der drei Kritiker des Propheten ist in den zwischen 622 und 632 entstandenen medinensischen Suren des Korans allerdings nicht zu finden; insofern können sie auch nicht als theologische Präzedenzfälle gelten. In der 9. Sure wird in Vers 61 all denjenigen, die den Propheten beleidigen oder kränken, eine schwere Jenseitsstrafe angedroht. In einer anderen medinensischen Sure ist die Rede davon, dass die Verächter Gottes und seines Gesandten von Gott im Diesseits und Jenseits verflucht werden und dass sie im Jenseits eine erniedrigende Strafe erwartet (33:57).
Solche Koranverse bezeugen deutlich, dass es die Aufgabe weder des Propheten noch der Gläubigen ist, Kritiker oder Spötter zur Rechenschaft zu ziehen. Die Rolle des Propheten ist ganz klar definiert. In der letzten in Medina offenbarten Sure beispielsweise ist zweimal zu lesen, dass Mohammed nur die Botschaft Gottes auszurichten habe (5:92 und 99). Auch in den frühen, zwischen 610 und 622 in Mekka entstandenen Suren ist dies festgehalten, etwa wo es heisst: «Du bist ja nur ein Warner und hast keine Gewalt über sie» (88:22). Insgesamt dreizehn Mal wird im Koran die Aufgabe des Propheten solcherart unmissverständlich definiert.
Ebenso deutlich hält der Koran fest, dass Mohammed nur ein Mensch – und infolgedessen nicht unfehlbar – war. In Sure 18, Vers 110 ist z. B. zu lesen: «Sag: Ich bin nur ein Mensch wie ihr. Mir wurde eingegeben, dass euer Gott ein einziger Gott ist.» Der auch hier deutlich hörbare Akzent in der Koranoffenbarung ist, dass Mohammed ein Mensch ist und dass er in seinem Handeln auch kritisiert werden darf.
Mit Spott und Hohn bedeckt
Mohammeds erstes öffentliches Auftreten erregte viel Aufmerksamkeit und auch Widerspruch bei den damaligen Mekkanern. Anfangs ging es um eine verbale Opposition, die Kritik an der verkündeten Botschaft übte. Bis zur Zeit seiner Auswanderung nach Medina 622 wurde er von seinen Mitbürgern verspottet (73:29–32); man bezeichnete ihn als Wahnsinnigen, als Schwindler, Wahrsager oder Dichter, andere warfen ihm vor, bei den koranischen Botschaften handle es sich lediglich um Geschichten früherer Generationen, die er aufgeschrieben habe. Selbstverständlich werden solche Beschuldigungen im Korantext vehement dementiert. Zur Rechenschaft gezogen wurde jedoch wegen dieser Kritik niemand.
Besonders die im Koran ebenfalls dokumentierten Kriegshandlungen und bewaffneten Auseinandersetzungen der neu gegründeten muslimischen Gemeinde in Medina, sowohl gegen die Mekkaner als auch gegen die Anhänger der anderen monotheistischen Religionen, weisen deutlich darauf hin, dass der Prophet ein Mensch und gegen Fehler nicht gefeit war. In Mekka waren die Muslime eine unterdrückte Minderheit gewesen; durch die Auswanderung veränderte sich die Lage. In Medina erhielt die neue Religion eine politische Dimension, denn der Prophet legte grossen Wert auf seinen Herrschaftsanspruch als wesentliches Merkmal der neuen Ordnung.
Der historische Mohammed als unter konkreten situativen Bedingungen handelnder Verkünder einer Offenbarung und als Staatsmann wurde im Laufe der Jahrhunderte im Namen einer theologischen Orthodoxie zu einer Heilsfigur überhöht. Die Sunna – die Sammlung beispielhafter Handlungen und Verhaltensweisen Mohammeds, welche als zweite kanonische Quelle neben dem Koran gilt – entstand zwei Jahrhunderte nach seinem Tod und aus ideologischem Interesse; sie steht für eine Religion und eine Gesellschaft, die nicht diejenige des historischen Propheten ist. Und das Bild des menschlichen, fehlbaren Mohammed verschwindet hinter seiner Mythologisierung.
Das Dogma der Unfehlbarkeit
Die muslimischen Gelehrten leisteten im Laufe der Jahrhunderte einen erheblichen Beitrag zur Konstituierung eines hagiografischen Bildes des Propheten. Für sie gilt er als sündenlos und somit unfehlbar. Sie verlegten die Jenseitsstrafe ins Diesseits und erklärten eine Rechtsauslegung nach der Scharia, die auf dem normsetzenden Handeln Mohammeds fusst, für gültig. Infolgedessen herrschte sogar Konsens unter den meisten klassischen Gelehrten, dass die Verunglimpfung des Propheten durch einen Muslim mit dem Abfall vom Islam – auf den in der Scharia die Todesstrafe steht – gleichzusetzen sei.
Im Laufe der Jahrhunderte wurde so jegliche Kritik am Propheten unmöglich. Anscheinend ist die Furcht vor dem freien Denken und der Selbstbestimmung immens. Die Kritik an Mohammed bedeutet selbstverständlich, auch Zweifel an politisch-juristischen Inhalten des Korans zu hegen, das politische Handeln des Propheten abzulehnen und Rechtsbestimmungen aufzuheben, die nicht mehr zeitgemäss sind. Daher muss das Dogma der Unfehlbarkeit des Propheten revidiert werden. Er regiert bis heute das Leben vieler Muslime aus seinem Grab heraus.
Diese politische Macht Mohammeds über die heutige Zeit und die fortdauernde Normativität seines historisch situativ bedingten Handelns muss beendet werden. Die Betonung seiner historischen Persönlichkeit will den Islam letztlich von seinem hagiografisch dogmatisierten Prophetenbild befreien.
Dabei darf die historisch-kritische Auseinandersetzung mit dem Propheten nicht als eine Schmähung begriffen werden. Das Ziel der differenzierten und sachlichen Islamkritik liegt darin, die nachträgliche Idealisierung seiner Person zu eliminieren, damit sich seine essenzielle Rolle als infolge seiner Menschennatur unvollkommener Verkünder einer Religion herauskristallisiert.
Keine Denkverbote mehr
Unsere westlichen Werte sind nicht im Namen einer missverstandenen Toleranz verhandelbar. Die Meinungsfreiheit und -verschiedenheit in Bezug auf den Islam im europäischen Kontext darf nicht aus Angst vor dem Vorwurf der Islamophobie verhindert werden. Dieser Vorwurf ist eine Strategie, um nicht nur den Islam unangreifbar zu machen, sondern auch die Macht der konservativ-politischen Organisationen und ihrer Anhänger zu stärken. Es ist heutzutage dringender denn je geworden, das religiöse Erbe des Islams und der muslimischen Wissenstradition kritisch zu beleuchten und gegebenenfalls auch infrage zu stellen.
Diese gegenwärtige Notwendigkeit ist die oberste Bedingung für eine Renaissance eines europäischen Islams. Denkverbote müssen aufgehoben werden. Die Kritik am Islam und am Propheten darf nicht als Angriff gegen die Religion selbst verstanden werden, denn Motivation dazu ist nicht die pauschale Ablehnung des Glaubens und des religiösen Handelns seiner Anhänger, noch die Ablehnung ihres Propheten.
Es genügt auch nicht, variantenreich zu sagen, dass der Islam eine Religion des Friedens sei. Wir Muslime müssen ihn dazu machen. Mit Recht kritisieren viele den politischen Islam, doch wird dabei der Blick auf seine kanonischen Quellen – den Koran und die Tradition des Propheten – verdrängt oder vergessen. Denn es steht fest: Die Islamisten berufen sich für die Rechtfertigung ihrer Gewalttaten auf politisch-juristische Koranverse aus der dafür massgeblichen medinensischen Epoche. Der politische Islam hat letztlich kaum Neues erfunden. Seine Wortführer haben nur das, woran die Mehrheit der Muslime glaubt, in die Tat umgesetzt.
Abdel-Hakim Ourghi leitet den Fachbereich Islamische Theologie und Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Freiburg i. Br.
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