Seit der Jahrtausendwende reihen sich die Napoleon-Jubiläen aneinander, und die Liste der Neuveröffentlichungen bricht nicht ab. Auffällig ist, dass die deutsche Historikerzunft den „Frankreich-Kennern“ weitgehend das Feld überlässt, während sie in reich bebilderten Tagungsbänden Detailfragen erörtert. Aber Napoleon war immer schon ein Thema, bei dem die Darstellungskünstler die Fachhistoriker ausstachen.
Johannes Willms legt sich die Latte von Anfang an ziemlich hoch. Das Buch, heißt es im Vorwort, sei „Frucht einer mehr als drei Jahrzehnte währenden Beschäftigung seines Autors mit Napoleon“. Das Inhaltsverzeichnis klingt vielversprechend, in drei Schritten will er dem Phänomen Napoleon zu Leibe rücken. Zunächst soll dargelegt werden, „wie es Bonaparte gelang, seinen eigenen Mythos zu entwickeln“; zweitens, wie „die Verbannung Napoleons nach St. Helena seiner eigenen Verklärung Vorschub leistete“, um daraus drittens „seine bis heute nimmerwelke Faszination“ abzuleiten.
Der erste und umfangreichste Teil („Der Mythos“) enthält eine detaillierte Darlegung der einzelnen Phasen des Aufstiegs Bonapartes, von der Niederschlagung des Vendémiaire-Aufstands 1795 bis zu seiner Rückkehr aus Ägypten im Herbst 1799. Die penibel erzählten Geschichten sollen, nicht immer stringent, die Facetten des Mythos ausleuchten, den „Revolutionär“, den „Politiker“, den „Spieler“ und den „Heiland“. Überzeugend ist das Unterkapitel über den Italien-Feldzug von 1796 („Der Heros“), in dem Willms demonstriert, wie durch die Siege von Lodi und Arcole der Mythos des Schlachtengottes begründet wurde, mit dem sich Napoleon von da an identifizierte.
Im zweiten Teil („Das Evangelium“) wird nachgezeichnet, wie sich dieser Mythos beim Niedergang Napoleons verbrauchte, erst 1814, als es des Abfalls seiner Generäle bedurfte, um ihn zum Aufgeben zu zwingen, dann bei der forcierten Liberalisierung der Verfassung während der Hundert Tage, deren Ernsthaftigkeit weder die Zeitgenossen Napoleon abnahmen noch er sich selbst. Als alles verloren schien, gelang ihm im Exil auf Sankt Helena der große Coup: Dank der Zusammenarbeit mit Las Cases schrieb er seine Biographie zu einer Mär von der Emanzipation der europäischen Nationen um, bei der er, Napoleon, Geburtshelferdienste geleistet habe. Dieser „Mémorial de Sainte-Hélène“ sollte zur Bibel eines Napoleon-Kults werden, der wenige Jahre nach seinem Tod einsetzte und in der Überführung seiner Gebeine in den Pariser Invalidendom im Dezember 1840 gipfelte. Die von Louis Philippe initiierte Aktion habe laut Willms wie ein Bumerang gewirkt und die Absicht des „Bürgerkönigs“ vereitelt, einen Teil der postumen Glorifizierung für sich abzuzweigen. Damit führte sie, so der Autor, zur Wiederauferstehung Napoleons in Frankreich („Die Apotheose“).
Darüber ließe sich streiten. Heinrich Heine, selbst Zeuge des Rückkehrzuges, kam zu dem Ergebnis, dass die „neue Generation“, also die Anhänger des Juste milieu, den Enthusiasmus ihrer „Väter“ nicht mehr verstanden und sich von einem „glänzenden Alp“ erlöst fühlten. Das Material, das Willms bewegt, ist trotz solch überpointierter Diagnosen beeindruckend. Er hat, so scheint es, aus seinem reichen Fundus solche Partien der Napoleon-Geschichte ausgewählt und unter das Brennglas gelegt, die bei seinen früheren Werken im Schatten der großen Begebenheiten geblieben waren. Sein neues Buch ist der Versuch, alles miteinander in Beziehung zu setzen: die Selbsterfindung Napoleons, die Umdeutung seines Wirkens durch den „Mémorial“ und die Wiederkehr des mimetischen Napoleon im neunzehnten Jahrhundert. Das ist viel, vielleicht zu viel für ein einzelnes Buch. Der Verfasser droht den Bezug zum thematischen Rahmen zu verlieren, trotz, aber auch wegen der vielen schönen Zitate.
Günter Müchlers Buch will dagegen „nur“ eine Biographie sein, aber eine mit einem neuen Aspekt. Für ihn war Napoleon ein Held der „Umstände“, der flexibel und unzweifelhaft mit militärischem Genie begabt auf die sich bietenden Gelegenheiten reagierte und aus unterlegener Position wie 1796 und 1800 in Italien und 1805 in Austerlitz die Fehler seiner Gegner nutzte. Das hat zwar schon Clausewitz ihm bescheinigt; aber die Passagen über Kriege und Außenpolitik überzeugen. Plausibel ist auch die Feststellung, dass sich die Gegner an die Überrumpelungsstrategie Napoleons gewöhnten und ihm nicht mehr den Gefallen taten, sich aus der Reserve locken zu lassen. Sie verweigerten ihm in Russland 1812 und in Deutschland 1813 die offene Konfrontation und reduzierten so die Gelegenheiten, aus denen heraus er seine überwältigenden Erfolge erzielte. Allerdings war diese Gegenwehr aufwendig, verlangte Geduld und Koordination und forderte viele Opfer.
Müchler lehnt es ab, Aufstieg und Fall des Korsen aus einem angeblich narzisstischen Ego zu erklären. Zwar attestiert er Napoleon eine im Laufe seiner Karriere zunehmende Resistenz gegenüber den guten Ratschlägen seiner Umgebung, aber das sei nicht der Grund für seinen Untergang gewesen. Er betont, dass Napoleon die meisten seiner Kriege als Verteidigungskriege geführt habe, und nähert sich damit der These Albert Sorels von der Unvereinbarkeit von Französischer Revolution und europäischem Ancien Régime. Napoleon, so Sorel, war nur derjenige, der diesen Urgegensatz von der Revolution geerbt hat, was ihn zu einem gigantischen Abwehrkampf mit Europa zwang, in dem er schließlich unterliegen musste.
So weit geht Müchler nicht, aber auch er übersieht, dass Napoleon es versäumte, in den Intervallen zwischen Friedensschlüssen und Koalitionskriegen (die Geschichtsschreibung zählt deren sieben zwischen 1792 und 1815) die Friedensbereitschaft seiner Gegner, vornehmlich Großbritanniens, zu testen. Stattdessen reizte er sie mit weiteren Nadelstichen so lange, bis sie von sich aus den Kampf wiederaufnahmen. Das gilt besonders für die anderthalb Jahre zwischen dem Friedensschluss von Amiens und dem Ausbruch des dritten Koalitionskrieges im Jahre 1803, als die Friedenssehnsucht nicht nur in Frankreich, sondern auch in England groß war und es vielleicht nur einiger vertrauensbildender Maßnahmen bedurft hätte, um den „halben Frieden“ in eine Koexistenz der beiden Großmächte zu verwandeln.
Es hätte dem Buch gutgetan, wenn der Autor gelegentlich aus größerer Distanz auf seinen Helden geblickt hätte. So bleibt er dem an den „Umständen“ orientierten Entscheidungsprozess Napoleons immer dicht auf den Fersen, verliert aber damit die eigentlichen Zäsuren der Karriere aus dem Blick, die Wegmarken, an denen sich dem Protagonisten eine Alternative bot, die er ausschlug. Manchmal geht Müchler auch zu dicht auf Tuchfühlung mit seinem Gegenstand und lässt sich vom Impetus des Erzählens dazu animieren, über die Psyche seines Protagonisten zu spekulieren. Die erlebte Rede übt dann die ihr eigene Verführungskraft aus, auf Autor wie Leser. So lässt Müchler seinen Napoleon vor dem Spiegel über die bevorstehende Heirat mit der Habsburgertochter sinnieren: „Es ist nicht zu leugnen, die 40 sind überschritten. Marie Louise ist noch nicht einmal halb so alt wie er!“
Solche stilistischen Freiheiten gehören eigentlich nicht in eine Biographie strenger Observanz. Aber dem Lesevergnügen tut das keinen Abbruch. Und zudem befindet sich Müchler damit in der Gesellschaft so erfolgreicher Vorgänger wie Emil Ludwig und Friedrich Sieburg. Es ist schwierig, sich einem Thema wie der Lebensgeschichte Napoleons zu nähern, ohne sich von der Faszination des Sujets forttragen zu lassen. Die schiere Schönheit der Fabel mit Aufgang, Peripetie und Niedergang, die Strahlkraft des Helden, der in der Niederlage zur Form des Anfangs zurückfindet, dazu die Schauplätze der Handlung von Ägypten bis Russland und Sankt Helena: Das lässt keinen Biographen kalt. Napoleon wusste schon, warum er seinen Lebensroman nicht im „Gemüsebeet“ Elba (so Chateaubriand), sondern auf einem fernen Eiland im Atlantik enden ließ, das erst seit vier Jahren einen Flughafen besitzt.
Johannes Willms: „Der Mythos Napoleon“. Verheißung, Verbannung, Verklärung. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2020. 384 S., Abb., geb., 26,– €.
Günter Müchler: „Napoleon“. Revolutionär auf dem Kaiserthron. WBG/Theiss Verlag, Darmstadt 2019. 624 S., geb., 32,– €.
Nota. - 'Das war genau die richtige Konstellation für einen wie Napoleon!' - Aber wenn sich im richtigen Moment einer wie Napoleon nicht eingefunden hätte? Es bringt einen zum Grü-beln.
JE
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