Mittwoch, 31. März 2021

Scylla oder Charybdis?

tagesspiegel

Von Söder weiß man, dass er sich wenden kann, wenns an der Zeit ist. Das sei das Risiko mit ihm, sagen Skeptiker.

Von Laschet weiß man, dass er sich nicht ändern wird. Das sei bei ihm kein Risiko, sondern graue Gewissheit, sagen seine Gegner.

Söders Handicap ist, dass man ihm nicht traut, Laschets Handicap ist, dass man ihm nichts zutraut, und für beide gilt: Landesfürst in der Provinz ist was anderes als Führer einer Welt-macht.

Das ist schon trübe genug. Man hätte meinen können: Ein CDU-Vorsitzender als Kanzler, das sind wir gewohnt, da riskiert man nicht viel. Ja eben, rufen Schlaumeier, das wird man aber müssen! Laschet im Kanzleramt und Söder in München als Nebenkanzler, das ist kein Risiko, das ist das programmierte Desaster auf Weltniveau.

Dagegen der CSU-Vorsitzende als Kanzler, der CDU-Vorsitzende Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen - die Verhältnisse stehen auf dem Kopf, der Schwanz wackelt mit dem Hund! Da wird über kurz oder lang kein Stein auf dem andern bleiben. Und zwar aus pro-grammatischen, wenn auch - oder gerade - zunächst nur aus arithmetischen Gründen. Koalie-ren könnte der eine wie der andere nur mit den Grünen, das sehen beide so. Wer gäbe da den Ton an? Laschet wird immer so dastehen, als könne er den Grünen nichts abschlagen, aber Söder hat das Zeug, an ihnen vorbeizupreschen und sie in Zugzwang zu bringen. 

Dann sieht es anders aus: Mangels ernstgemeintem Programm werden die Grünen ihm... nichts abschlagen können. Profilieren können sie sich, wenn man das so nennen will, immer nur durch divers-identische Symbolpolitik, und grade da brauchen sie ein Gegenüber, der ihnen das abschlagen kann und will - denn sonst wird das nichts mit der radikalen Mitte, der Vernunft und der Bewahrung des Rechtsstaats.

Das ist es, was mir heute dazu einfällt. Söder hat sich in den vergangenen Wochen als der treuere Merkelianer erwiesen, während Laschet sich, aber auch das wieder nur als Minister-präsident, "von der Ära Merkel verabschiedet". Das Problem, den eigenen Laden auf Vor-dermann zu bringen, haben sie beide. Dem Laschet - siehe oben - traut man's nicht zu. Dem Söder haben seine geschäftstüchtigen Maskenmänner gerade eine prächtige Vorlage geliefert, und mit Gauweiler muss er wohl auch nicht mehr rechnen, aber Laschet mit Merz - im eigenen Landesverband.

Wenn ich das alles nochmal durchgehe, wird mir ehrlich gesagt mulmig.


 

Dienstag, 30. März 2021

Merkels wichtigstes Argument ist sie selbst

In der heutigen Ausgabe der Süddeutschen Zeitung schreibt Nico Fried unter der Überschrift Merkels wichtigstes Argument ist sie selbst:

... So bleibt Merkel nur eine offene Konfrontation, wenn die Pandemie nicht völlig außer Kontrolle geraten soll. Die Kanzlerin warnt nun all jene Ministerpräsidenten, die trotz stei-gender Infektionszahlen die Notbremse schleifen lassen. Aber vor was genau warnt sie eigentlich? Die formalen Druckmittel, über die Merkel verfügt, sind kompliziert, strittig und in der Regel auch nur anzuwenden, wenn die Länder im Bundesrat ihrer eigenen Entmachtung zustimmen. Deshalb sind das auch nicht die Mittel, auf die Merkel tatsächlich setzt. Das wichtigste Argument der Kanzlerin ist sie selbst.

Bei allen Versäumnissen: Merkel steht immer noch im Ruf, mit ihrem vorsichtigen Kurs häufiger richtig gelegen zu haben als die Länderchefs im Ensemble. Deshalb hat sie auch am Sonntagabend noch mal ausführlich an die Verzögerungen vor der zweiten Welle erinnert. Ihr Fehlereingeständnis vergangene Woche, selbst von der Opposition mit Respekt quittiert, dürfte ihrem Ansehen auch nicht geschadet haben.

Und dass sie den Ministerpräsidenten, CDU-Chef und potenziellen Kanzlerkandidaten Armin Laschet von ihrer Kritik an einer zu freien Interpretation der Notbremse nicht ausnahm, ist auch als Zeichen zu verstehen: Merkel wird im Kampf gegen die Pandemie keine Rücksichten mehr auf den Kampf ums Kanzleramt nehmen. Mal ganz abgesehen davon, dass letzterer ohnehin verloren geht, wenn der erste nicht gewonnen wird.

Die Kanzlerin hat die jüngste Ministerpräsidentenkonferenz als Zäsur bezeichnet und eine neue Form des Austauschs zwischen Bund und Ländern angekündigt. Wie der aussehen soll, hat sie nicht ausdrücklich gesagt, aber man versteht es auch so: Die Ministerpräsidentenkon-ferenz findet jetzt faktisch in aller Öffentlichkeit statt. Man wird das schon bald erleben, wenn es um die Frage eines harten Lockdowns geht.

Merkel wirft damit in die Waagschale, was ihr an Ansehen und Vertrauen noch geblieben ist. Weil das deutlich weniger ist als noch vor einem Jahr, ist das Unternehmen nicht ohne Risiko, für sie wie für das Land. Denn wenn die widerwilligen Ministerpräsidenten nicht beidrehen und die Kanzlerin keine Handhabe gegen sie findet, ist sie politisch erledigt - und die Pandemie-Bekämpfung rutscht weiter ins Chaos.

 

Nota. - Sicher bin ich nicht der einzige, der immer wieder mal gehofft hat, dass Merkel nun endlich Nägel mit Köpfen macht. Nicht einmal der einzige, der darunter verstand: im eigenen Laden aufräumen. Sie hat es nie getan, sie hat immer taktiert und kompromisselt, worin ja ihre Stärke lag. Für das Flottmachen der CDU zur Achse einer neuen dynamischen Mitte möchte das ohnehin nie gereicht haben. Der eigentliche Mangel war aber, dass sie darin auch nie ihre Aufgabe erkannt hat. Ihr hat gereicht, dass sie als Kanzlerin Deutschland führen kann. Wer nach ihr kommt, hat sie nie wissen wollen, denn er hätte ihr unterwegs nahekommen müssen.

Wie das Schicksal so spielt, geht es jetzt um ihr Vermächtnis. Und siehe da: Es geht eben doch um die CDU. Hat sie als Vorsitzende versäumt, klar Schiff zu machen, so muss sie es jetzt halb von außen, nämlich aus dem Kanzleramt versuchen. Und jetzt ist es mit deen Händen zu grei-fen: Eine Neugruppierung der zukunftswilligen Mitte ist unumgänglich. Welche Rolle, und ob überhaupt, dabei die CDU spielen wird, ist zweitrangig. Zu befürchten ist bloß, dass ein ande-rer sie gar nicht spielen könnte, wenn er auch wollte.

Montag, 29. März 2021

Die drei Säulen des Westens.

Delphi

aus nzz.ch,

Hier die Woke-Aktivisten, dort der Wohlfühlstaat: 
Wie die Bürger ihre Freiheit langsam, aber sicher preisgeben
Früher war der Gewaltherrscher der Feind der Freiheit. Heute sind es der postmoderne Tugendterror und – welche Ironie! – der moderne Für- und Vorsorgestaat.
 
von Josef Joffe 

Der liberale, also machtbegrenzte Staat wird von zwei neuen Feinden heimgesucht, die vor einer Generation nicht einmal im Albtraum aufschienen. Der eine Feind ist der weiche Totalitarismus. Vor vierzig Jahren als «Dekonstruktion» in Frankreich erfunden, wanderte er nach Amerika aus, wo er zu grotesker Form aufstieg und jetzt im gesamten Westen en woke ist. Woke, etwa «aufgewacht» oder «erleuchtet», nennen sich jene, die überzeugt sind, es gebe eine weisse Vorherrschaft über die «Verdammten dieser Erde», wie es in der Internationale heisst: über Frauen, Dunkelhäutige, Schwule, Fremde, Andersgläubige. Alle sind Opfer der infamen Verschwörung weisser Männer.

Am anderen Ende kommt der Feind als guter Onkel daher. Der ist der freundliche für- und vorsorgende Staat, der sich freilich nicht erst seit Covid-19-Zeiten unaufhörlich ausbreitet. Das demokratische Gemeinwesen arrondiert seine Macht ohne Waffengeklirr und mit der stillen Duldung des Demos.

Wokeness ist im Kern Stalinismus ohne NKWD, Maoismus ohne Rote Garden. Als Ziel gilt die Erlösung von der weissen Oberherrschaft. Tatsächlich ist wokeness jedoch eine Attacke gegen das Beste im Westen: Renaissance, Aufklärung, Liberalismus.

Die drei Säulen

Renaissance ist Leonardo und Galileo, Buchdruck, Mathematik und Astronomie. Nein, die Erde ist keine Scheibe, und das Universum dreht sich nicht um unseren Planeten. Nicht Kirche und Krone bestimmen das Wahre, sondern Beobachtung, Berechnung und Beweisführung. Damit sind wir bis zum E-Auto und zum Mars gekommen.

Aufklärung ist «sapere aude» – wage zu wissen. In Kants Worten: Aufklärung ist die «Maxime, jederzeit selbst zu denken». Nicht Priester, Potentat und Partei denken für mich. Ich muss es selber tun – Irrtum eingeschlossen. Doch enthält meine Deutung die Dauereinladung, sie regelhaft zu widerlegen. Das Wie debattiert die Philosophie seit den Vorsokratikern auf der Grundlage von Ratio und Recherche. Die Prämisse: Wahrheit gibt es, doch wird sie nicht verfügt, sondern im ewigen Disput entdeckt: durch Falsifizierung.

Liberalismus heisst: Das Individuum ist King, der Staat nicht Herrscher, sondern Diener. Im Mittelpunkt des politischen Universums steht der Einzelne – nicht Clan und Kongregation, Volksgruppe oder Geschlecht. Die heiligen Rechte eines jeden sind nicht vom Staat verliehen, sondern «unveräusserlich», wie es in der US-Unabhängigkeitserklärung steht, einem Klassiker des Liberalismus.

Der freiheitliche Staat gehorcht seinen eigenen zehn Geboten, die der Herrschaft hochgetürmte Mauern setzen: Du sollst nicht Rede- und Meinungsfreiheit ächten, einen fairen Prozess verweigern, Eigentum antasten. Du sollst freie Wahlen, die Gewaltenteilung, die Unabhängigkeit der Justiz ehren. Jeder hat das Recht auf «Leben, Freiheit und das Streben nach Glück». Das Urprinzip gilt seit der englischen Magna Charta von 1250: Der Monarch steht nicht über, sondern unter dem Gesetz.

Woke und weisse Oberherrschaft

Die Ideologie des «Wokismus» schleift diese Bastionen – ausgerechnet in Amerika, dem gelehrigsten Kind der Aufklärung. Statt Individualität herrscht Identität. Descartes’ «Ich denke, also bin ich» gehört demnach zusammen mit dem Patriarchat in den Abfalleimer der Geschichte. Denn das Ich versinkt im Kollektiv, das durch Kultur, Hautfarbe, Herkunft, Geschlecht, Glaube und vor allem Opferstatus definiert wird.

«Wahrheit» gebe es nicht; sie werde ersetzt durch diverse «Regime der Wahrheiten», die in der Macht wurzelten, predigt Michel Foucault in «Die Ordnung der Dinge». Wissenschaft sei bloss ein «Sprachspiel», wähnt Jean-François Lyotard. Wissen ist ein Konstrukt, das die Mächtigen erfunden haben, um den Rest zu versklaven.

Wissen und Moral sind nur für diese oder jene Kultur verbindlich. Es tobt der machtbasierte Relativismus. Alles ist einerlei: ob objektiv oder subjektiv, Realität oder Vorstellung – es gehe allein um den «strategischen Nutzen» einer Theorie, doziert Lyotard. Macht ist die Karte, die alle anderen sticht. Da gehen sie dahin: Renaissance, Aufklärung und all die toten weissen Männer und ihre Erfindungen.

Witzbolde lästern mit George Orwell: «Dann ist ja zwei plus zwei gleich fünf.» Inzwischen ist der Gag die Richtschnur. Gerade hat das Bildungsministerium des US-Gliedstaates Oregon an seine Lehrer eine 82 Seiten lange Handreichung verteilt, die «Rassismus im Mathematikunterricht abbauen» soll. Es gebe keine «richtige», sondern viele Antworten. Das «Entweder-oder» erhalte «kapitalistische und imperialistische Ansichten über die Welt aufrecht». Der klassische Mathe-Unterricht sei ein Werkzeug der white supremacy. Weg mit Pythagoras, Newton und leider auch den Arabern, die uns die Null und den Logarithmus verschafft haben. Mathematik ist demnach nicht objektiv. Und die Sonne geht im Osten unter.

Der Unterschied zum klassischen Totalitarismus? Keine Geheimpolizei, kein Gulag. Für Goodthink und Newspeak sorgt die Gesellschaft selber – genauer: eine deutungshoheitliche Klasse, die über die kulturellen «Produktionsmittel» verfügt und die «Kommandohöhen der Kultur» besetzt, um von Marx und Lenin zu borgen: Universitäten, Medien, Stiftungen, Schulen, Künste, ja mittlerweile auch Vorstandsetagen.

Warum diese Kulturrevolution so schnell so erfolgreich war, mögen künftige Historiker erklären. Heute gilt, dass Falschdenk und Falschsprech Menschen und Karrieren vernichten – ohne fairen Prozess. Die Anklage ist schon Beweis genug. Inzwischen sorgt sich selbst ein Linksliberaler wie Barack Obama. «Diese Idee von woke – hört endlich auf damit. Die Welt ist unordentlich, zweideutig.»

Da war er schon nicht mehr Präsident, doch ist der Staat längst Teil des Problems. Er hilft mit immer schärferen, auch strafbewehrten Regularien, um inakzeptables Reden und Handeln auszumerzen. Karl Marx würde sich freuen, hat er doch gelehrt, dass der Staat das willige Werkzeug der jeweils herrschenden Klasse sei.

Der gute Für- und Vorsorgestaat

Seine heutigen Repräsentanten sprechen etwa so: Wir sind nicht die Zwangsvollstrecker irgendeiner Elite, denn wir verkörpern das Wohl der Nation. Wir kujonieren nicht, wir bedienen das Staatsvolk. Wir umsorgen und versorgen, wir schützen und versichern es gegen die allfälligen Risiken menschlicher Existenz. Früher waren der Feind Krieg, Katastrophe, sozialer Abstieg, schiere materielle Not. Heute sind es Corona und Wirtschaftskollaps.

«Haben wir euch nicht von Polio und Masern befreit», fahren die Repräsentanten des guten Staates fort, «von Pest und Cholera? Wehren wir nicht jedwede tödliche Bedrohung ab – ob Rauchen, Klimawandel, Atomkraft oder Drogen? Und schenken wir euch nicht einen einklagbaren Anspruch nach dem anderen? Wir sind doch kein Politbüro, keine Nachgeburt der Schreckensherrschaft im 20. Jahrhundert.» Der Staat ist vielmehr der gute Samariter. Er hegt, pflegt und alimentiert. Keine Allianz, keine Axa kann, was allein der wohlwollende Staat mit seinem unerschöpflichen Reichtum kann: Ab- und Versicherung von der Wiege bis zur Bahre.

Wer in seinen Angstvisionen vom neoautoritären Staat phantasiert, mag zunächst Mut fassen. Keine Folterkammern, keine Volksgerichtshöfe. Und Datenschutz über alles! Das echte Problem aber ist eine bizarre Mischung aus Inkompetenz und schleichendem Übergriff im Namen des Guten: der absoluten Risikoabwehr. Auf der einen Seite liegen Millionen ungenutzter Impfdosen, das chaotische Nebeneinander ewig wechselnder Befehle. Auf der anderen steht ein Staat, der mit jedem Fehltritt seine Macht ausdehnt. Die Inzidenzzahlen steigen? Dann Versammlungsverbot, Ausgangssperre und Lockdown – und zwar mit dem Bürger als willigem Komplizen.

Aufblähen ohne Rechenschaft

Wer hier von der «Covid-Diktatur» faselt, kennt den echten Zwangsstaat nicht und ignoriert zudem die Geschichte des 20. Jahrhunderts, in dem auch der gute Staat unaufhörlich zu wuchern begann. Die beste Messlatte der Macht ist die Staatsquote – welchen Anteil am Bruttoinlandprodukt (BIP) die Regierung unters Volk bringt, um es zu ködern und den Staatsapparat aufzublähen, ohne sich unbedingt um Rechenschaft zu kümmern.

Um 1900 kassierte der amerikanische Gesamtstaat 8 Prozent, im Corona-Jahr 2021 waren es über 44, also fünfmal so viel. Bloss betrug die Quote schon vor der Covid-19-Pandemie an die 40 Prozent. Grossbritannien: von 12 Prozent vor 120 Jahren auf 51 Prozent heute. Deutschland: von 20 auf 45 bis zur Corona-Krise; jetzt 57. Die Schweiz steht leicht besser da, aber auch hier gilt: Seit 100 Jahren nimmt sich der Staat immer mehr, und Covid-19 ist nur der Extraklacks obendrauf. So oder so öffnet sich der Weg in die demokratische Staatswirtschaft.

Gleiches gilt auch für die Sozialquote: was der Staat verteilt, um die Bürger bei Laune zu halten. Die Quote ist seit 1900 im Westen von ein paar Prozent steil hochgeschossen – auf ein Drittel des BIP in Frankreich, auf mehr als ein Viertel in Deutschland. In der amerikanischen Hochburg des angeblichen Raubtierkapitalismus lag das «social spending» vor 120 Jahren bei knapp über null, nunmehr bei 20 plus. Märchenhaft wächst der gute Staat von Stockton, Kalifornien, bis Stockholm, Schweden.

Money talks, besagt ein amerikanisches Wort; auf Deutsch: «Wer zahlt, schafft an.» Der Staat nährt und impft, lockt und bindet mich – Ware gegen Wohlverhalten.

Wohlfahrt contra woke

Worin also liegt der Unterschied zwischen Wohlfahrt und woke? Der gute Staat nutzt nicht Peitsche, sondern Zuckerbrot. Er macht angebotsorientierte Politik: Kommt, labt euch, und lasst uns machen. Der Staat wächst unaufhaltsam, wie die historischen Daten zeigen, und der autonome, selbstverantwortliche Mensch schrumpft.

Woke hingegen ist, was früher Jakobiner und Rote Garden erzwungen haben. Woke ist das schiere Powerplay, was Lenin kto kowo nannte, «Wer bezwingt wen?». Ächtung und sanfter Zwang bestimmen Sprache, Denken und Verhalten. Wir «Aufgewachten» entscheiden, wer die Opfer und die immergleichen Täter sind. Im Namen des anderen verteufeln wir, wer anders denkt. Wir verwirklichen die Tugendherrschaft ganz ohne Gestapo, weil wir die Produktionsmittel der Kultur besitzen. So lenken wir das Denken.

Beide bedrohen die Freiheit – der eine herrisch, der andere hilfsbereit. Man möchte sich so gern auflehnen. Aber gegen wen? Gegen die Hoheitsverwalter der Kultur, die man nicht abwählen kann? Gegen unsere fürsorglichen Regenten, die uns Vakzine und Masken sowie bis zu ein Drittel des Volkseinkommens schenken? Holen wir uns lieber eine neue Versicherungspolice vom grossherzigen Staat; die Schulden zahlt die nächste Generation, wenn nicht unser Eigentum schon zu Lebzeiten im Feuer der Inflation verbrennt.

Zeit zum Aufwachen, aber im Sinne der Aufklärung, deren Prinzipien die Woken meucheln wollen, derweil der gute Staat den mündigen Bürger grossherzig einschläfert. Statt grosser Bruder oder netter Onkel Descartes und Kant! Statt Gutdenk Selbstdenk – aber bitte ohne Aluhüte und Verschwörungsgefasel.

Josef Joffe ist Mitherausgeber der «Zeit», und Distinguished Fellow der Hoover Institution der Stanford University. Seit 2021 lehrt er internationale Politik und Ideengeschichte an der Johns Hopkins University.

 

Nota. - In einem Punkt bedarf er der Berichtigung und, wenn ich nicht irre, der Belehrung: Nicht der Liberalismus ist die dritte Säule des Westens, er war vielmehr oft genung seine  weicheste Stelle; sondern die Liberalität, und die war bei den Liberalen nicht immer in den sicheren Händen - dafür handelten sie zu oft: Gibst du mir, geb ich dir.

Der Liberalismus ist nicht von der politischen Landkarte verschwunden, weil seine Feinde ihn besiegt hätten, sondern weil er sich als Partei immer und überall an die Machthabenden anzu-schmiegen - um so "das Schlimmste zu verhindern": Der liberale Abgeordnete Theodor Heuss hat 1933 im Reichstag für Hitlers Ermächtigungsgesetz gestimmt.

Der Liberalismus war wie die Freimaurerei das lose, aber lukrative Bindemittel eines gebildeten Bürgertums, das es nicht mehr gibt. 

Zu Libertät lautet das Adjektiv nicht liberal, sondern libertär.   

*

Libertär im originalen "kontinentalen" Sinn. Inzwischen haben Amerikaner, denen das geistige Eigentum nicht so sehr am Herzen lag wie das monetäre, den Begriff gekapert, weil sie sich seit Roosevelts und John Deweys New Liberalism nicht mehr liberal zu nennen trauen, und er gilt nun als Losung eines gesellschaftspolitisch extrem konservativen, doch ebenso antistaat-lichen Radikalismus.

In Europa ist der Ausdruck liberal jedoch entstanden als Etikett derjenigen Abgeordneten der verfassunggebenden spanischen Cortes in Cádiz, die sich gegen die royalistischen Reales als Liberales zusammenfanden und die erste demokratische Verfassung Europas verabschiedeten - und ein Abschied war es, denn die vereinte Konterrevolution Napoleons und der Bourbonen sorgte dafür, dass sie nie in Kraft treten konnte.

Liberal durfte sich seither das wendig geschäftstüchtige Juste Milieu der französischen Juli-Monarchie nennen, und das Wort so zu diskreditieren, dass die verbliebenen wirklichen Ver-teidiger der Freiheit sich nunmehr libertär nennen musste. Es steht seither für die pp. politi-sche Philosophie der Anarchisten.

*

Die dritte Säule des Westens sei der Liberalismus gewesen? Wohl eher seine wunde Achilles-ferse. Wer den Westen neu befestigen will, wird es auf libertäre Weise versuchen müssen. Denn libertär ist nicht der größte Vorteil der größten Zahl, sondern libertär ist das Gebot der Ver-nunft.

JE

Sonntag, 28. März 2021

Was aber heißt integrieren?

egcparts

"Ohne den Merkel-Bonus muss sie moderner sein, integrieren und argumentativ überzeugen", lese ich heute in der Badischen Zeitung über die CDU. Natürlich, denkt man: Wer sich auf die Mitte beruft, muss integrieren, weil nur er es kann; Flügel ziehen Grenzen mitten durch die Mitte.

Aber was heißt integrieren - genauer gesagt: wie geht integrieren? Indem man eine Linie vor-gibt, um die herum, fester oder lockerer, andere sich gruppieren können wie um ein Achse; und nicht, indem man sie um einen Tisch versammelt, unter dessen Platte sie einander die Schienbeine blutig treten. Lat. integer bedeutet ganz, vollständig, unversehrt. Es bedeutet nicht einvernehmlich. 

Ich habe keinen Grund, über das Ende der Volksparteien zu lamentieren. Sie bildeten alter-native Lager, die um die Macht feilschten und sich dabei kleinere Kostgänger ans Bein binden mussten. Es war das ererbte System von Jalta, das sich schon vor dreißig Jahren aufgelöst hat, ohne dass sich in Deutschland die politischen Kräfte darauf eingestellt hätten.

Politische Lager sind nicht darum obsolet, weil sie hässlich wären und Zank bewirken, sondern weil es keine alternative Optionen mehr gibt, nach denen man sich scheiden müsste. Die ein-zige Option, die übrigbleibt, heißt Globalisierung und digitale Revolution. Und halten Sie sich gut fest: Das ist eine Sache der Vernunft. Das Herz mag mehr links oder mehr rechts schlagen: Traditionen sind in Heimatvereinen und Bekenntnisgemeinschaften zu pflegen. In der Politik dürfen nur noch und können endlich Argumente zählen: Wie sind unter den Bedingungen der Globalisierung die unvermeidlichen Verwerfungen der digitalen Revolution zu bemeistern? Das ist die Achse, um die sich alles dreht. Alles, wohlbemerkt! Und das ist es, was das Politische integriert.

In der täglichen Wirklichkeit gibt es immer auch Nebenrücksichten. Die sind zu erwägen und regelmäßig nur im Streit gegeneinander zu gewichten - und der entscheidet tagespolitisch über Näher oder Ferner. Dass er innerhalb ein und derselben Partei geführt wird, ist weder erfor-derlich noch auch nur wünschenswert. Wer die klarste Sicht auf die historischen Herausfor-derungen entwickelt, wird sich früher oder später im Zentrum der Achse befinden, um die sich alles dreht. Dass das immer derselbe sei, ist weder erforderlich noch auch nur wünschens-wert.



Samstag, 27. März 2021

Gleicher als die andern.


aus welt.de, 27. 3. 2021

Die Identitätspolitik bedroht unsere freie Gesellschaft
Die Anhänger der Identitätspolitik fordern, Menschengruppen – wieder – nach Merkmalen zu unterscheiden: Sexualität, Geschlecht, Hautfarbe und Ethnie, Herkunft. Dabei geht es ihnen nicht um Gleichberechtigung, sondern um Bevorzugung. 

In Oakland, einem kleineren und etwas heruntergekommenen Ort neben San Francisco, können arme Familien jetzt 500 Dollar Unterstützung pro Monat für 18 Monate erhalten. Aber nur wenn die Antragsteller Schwarze sind. Arme Weiße, von denen es in Oakland viele gibt, sind ausgeschlossen.

Im britischen Städtchen Batley ist ein Schulrektor temporär suspendiert worden, er hatte seiner Klasse eine Mohammed-Karikatur gezeigt. Er hat sich nach wütenden Protesten mittlerweile brav entschuldigt. So wie die Zustände in Europa sind, muss man dankbar sein, dass der Mann noch lebt. Auch Imame rufen zu Ruhe, Zurückhaltung, Gelassenheit auf.

Die Berliner Grünen sind derweil schier implodiert, weil ihre Spitzenkandidatin das Wort „Indianerhäuptling“ aussprach.

Drei sehr unterschiedliche Fälle aus dieser Woche, die auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun haben. Dabei stehen sie stellvertretend für die verschiedenen Formen der Identitäts-politik, die sich im Westen ausbreitet. Ihre Anhänger fordern, Menschengruppen – wieder – nach Merkmalen zu unterscheiden: Sexualität, Geschlecht, Hautfarbe und Ethnie, Herkunft. Und für jede Gruppe sollen eigene Regeln gefunden werden.

Das Ziel ist, selbstverständlich, eine gerechtere Gesellschaft. Es geht dabei nicht um Gleich-berechtigung, sondern um Bevorzugung. Und so kommt es, dass die für unsere Gesellschaft konstituierende Übereinkunft, dass alle Menschen die gleichen Freiheiten, Chancen, Rechte genießen sollen, unterlaufen wird.

Wenige Medien stemmen sich dagegen. Viele, darunter leider die „New York Times“, regieren selbst nach entsprechenden Kriterien. Fälle gefeuerter NYT-Journalisten der jüngeren Vergan-genheit zeigen: Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, erbrachte Leistung sind nachrangig. Und bri-tische Journalisten berichten über den Vorfall in Batley maximal vorsichtig: Vor der Schule demonstrieren demnach „Leute“, Fotos zeigen strenggläubige Muslime.

Was bleibt, ist die Hoffnung aufs Gesetz. Vor dem sind alle gleich. So ist das Prinzip. Aber auch das wollen manche ändern. Das Grundgesetz, so heißt es in einem Papier führender Grüner, sei „in Teilen problematisch und unzureichend“, man müsse künftig „Forderungen diskriminierter Gruppen im Kampf um gesellschaftliche Anerkennung und Teilhabe solida-risch und unter Berücksichtigung der intersektionalen Verschränkungen zusammenführen“. Im schönsten Neusprech erklären Claudia Roth und ihre Mitunterzeichner, sie wollten so dafür sorgen, dass die „Demokratie gestärkt“ werde. Das Gegenteil wird der Fall sein.

 

Freitag, 26. März 2021

Das Maniweich "der Intellektuellen".

Botticelli, Chor der Engel 

Für die offene Gesellschaft
Manifest 
Die Diskussionen in dieser Pandemie sind vergiftet. Tauschen wir uns endlich ruhig und angstfrei aus

aus Freitag, 12/2021

Die seit Monaten anhaltende Debatte um die Corona-Politik und deren in allen Bereichen unserer Gesellschaft spürbare Folgen hat die Menschen in unserem Land polarisiert. Das schadet nicht nur dem sozialen Frieden und dem gesellschaftlichen Zusammenhalt, sondern auch der Qualität der Argumente, die wir so dringend im engagierten Diskurs austauschen müssen.

Wir wollen die Diskussion wieder versachlichen, um im Rahmen des demokratischen Spektrums den Raum für einen freien Dialog zu schaffen und offenes Denken verstärkt zu ermöglichen. Vor allem dürfen wir nicht den Verschwörungsfanatikern, Extremisten und Demokratiefeinden das Feld überlassen, wenn es um die kritische Bestandsaufnahme und das konstruktive Hinterfragen der Corona-Maßnahmen geht. 

Wir wollen weg von der erregten Zuspitzung in den Medien, weg von Konformitätsdruck und einseitiger Lagerbildung in der Gesellschaft und weg von einem unguten Schwarz-Weiß-Denken. Gefragt ist eine grundsätz-liche Offenheit auch für den möglichen Irrtum, in der grundlegenden Annahme, dass auch das Gegenüber im Streit von besten Motiven geleitet sein und grundsätzlich recht haben kann. 

Gerade mit Blick auf die anstehende und notwendige Aufarbeitung einer der schwersten Krisen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland sollte gelten: Tauschen wir uns besonnen, in Ruhe, ohne Angst, mit Sinn für die Zwischentöne und ohne vorschnelle Schuldzuweisungen aus, auf der Basis eines Zusammenlebens in Freiheit und einer von uns allen geteilten Diskussions- und Streitkultur: hart in der Sache, aber moderat im Ton (fortiter in re, suaviter in modo). Für die offene und freie Gesellschaft.

 

Nota. - Blamabel für die Intelligenz.

JE

 

Haltet den Dieb!

spd-roedermark
aus FAZ.NET, 26. 3. 2021
 
Dummheit bis zur Durchimpfung
Eine freiere Debatte über die Pandemiepolitik fordern vielgefragte Autoren von Meinungsartikeln in einem Manifest. Unfrei fühlen sie sich, weil ihre Kritik auf Kritik stößt. Das ist lächerlich. 

von Patrick Bahners

Es fehlt an Impfdosen und Schnelltests, an Schulungsterminen für Hausärzte und Software für Terminverteilung, an Verdienstmöglichkeiten für Künstler und am Schutz vor Ansteckung im Altersheim, an Routine im Schulunterricht und am Mut zur Durchbrechung der Routine im föderalistischen Mehrebenensystem, an Wissen über die Eigenschaften der allerjüngsten Variante des Virus und an Geduld. An alldem fehlt es am Anfang des zweiten Jahres der Covid-19-Pandemie in Deutschland. Und woran fehlt es noch, was fehlt in dieser Liste der Fehlanzeigen?

Es fehlt an Kritik: Das ist die These eines Textes, den die „Welt“ als „Das Manifest der offe-nen Gesellschaft“ gedruckt hat. „Die Intellektuellen Markus Gabriel, Ulrike Guérot, Jürgen Overhoff, Hedwig Richter und René Schlott fordern eine freiere Debatte über die Corona-Politik – und haben Prominente aus Wissenschaft, Politik und Kultur als Unterstützer ge-wonnen.“ Die Debatte ist also nicht frei genug. Wie wollen die „Intellektuellen – vier Pro-fessoren und ein wissenschaftlicher Mitarbeiter – das belegen? Wurden rechtliche Beschrän-kungen der Debattierfreiheit verhängt? Nein, Artikel 5 des Grundgesetzes ist nicht gemeint, wenn der erste und mutmaßlich prominenteste der Unterstützer, deren Bekenntnisse das Manifest rahmen, der Schauspieler Jan Josef Liefers, schreibt: „Um Grundrechte dermaßen lange auszusetzen, bedarf es erstklassiger Gründe, die immer wieder der öffentlichen Gegen-rede ausgesetzt werden und ihr standhalten müssen. ..."

 

In der Tat ist das lächerlich. Es würden "Grundrechte ausgesetzt", und zwar "lange", doch um welches Grundrecht es sich im jeweiligen Fall handelt, ist nicht zu erfahren. Mein Grundrecht auf Freizügigkeit im Geltungsbereich unserer Verfassung wird nicht ausgesetzt, wenn die Ampel auf Rot schaltet, sondern lediglich eingeschränkt - und warum? Weil das Überqueren der Straße in dem Moment lebensgefährlich wäre, und zwar nicht nur für mich. Das sei ja nicht "lange", mag J.J. Liefers einwenden, sondern nur ein paar Sekunden - aber rund um die Uhr immer, immer wieder... 

Das könne man gar nicht vergleichen? Verfassungsjuristisch vielleicht nicht, aber politisch schon. Wahlen werden nicht ausgesetzt, Parteien werden nicht verboten, auch Versammlungen werden nicht untersagt, sondern unter Auflagen gestellt: Abstand, Mund- und Nasenschutz usw.. Man kann nicht einmal behaupten, das sei unverhältnismäßig. Ob deren Durchsetzung durch die Polizei jeweils verhältnismäßig war, wird man j eweils im Einzelfall diskutieren können. Ja eben, können! Eine Zensur findet nicht statt, steht im GG, und eine Änderung wurde bisher nicht vorgeschlagen, keiner der Unterzeichner behauptet, man habe ihm den Mund verboten - ihr Manifest bewiese das Gegenteil.

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So, jetzt reichts aber. Ich habe so getan, als hätte ichs ernstgemeint. Ich habe sie, und das ists, was sie wurmt, nicht einmal ernst genommen.

Dieses Manifest hätte nämlich, Wort für Wort, von den Herren Drosten, Lauterbach, Wieler, Kretschmann, Spahn und Söder und selbst von der Frau Merkel unterschrieben werden können - und die wären sogar glaubwürdiger! Und warum dies? Weil die ja in Vorleistung sind. Was sie meinen, ist offenkundig, denn sie müssen es ja tun. Die Kritik hats leicht: Es ist alles zu wenig, zu spät, zu unübersichtlich - und vor allen Dingen alles zu unsicher.

Dass es unsicher ist, liegt in der Natur der Sache, alles andere wäre je im Einzelnen zu prüfen und gegebenenfalls... na ja: zurückzunehmen, und sei's mit Entschuldigungsfloskeln; und so geschieht es. Hat einer der Manifestanten einen Verbesserungsvorschlag vorgetragen, der ungeprüft in den Wind geschlagen wurde? Dann hätte er es an die Öffentlichkeit tragen können/sollen/müssen; Zugang zu den Medien haben sie ja offenkundig.

Doch da liegt der Hase im Pfeffer: Im Konkreten kommt die Kritik nicht an die große Glocke, wohin sie auch nicht gehört, sondern nur, wenn sie pauschal vorgetragen wird: "die ganze Richtung..." Und da geschieht die Ungleichgewichtung: Die handelnd Verantwortlichen könnten sich immer nur en détail rechtfertigen, das kommt nicht an die große Glocke, die große Glocke läutet: alles zu kleinteilig, alles nur von der Hand in den Mund, es fehlt die große Linie, es fehlt ein gesamtgesellschaftliches Projekt! Doch was das sein könnte, sagt uns keiner.

Es  geht alles unter im Krakeel - jedenfalls in den Medien. Wenn die Manifestanten meinen, dort kämen sie nicht zu Worte, ist das nicht nur, wie Patrick Bahners schreibt, lächerlich, sondern unverschämt.

Dazu schrieb gestern der Tagesspiegel:

"Einem platzt ... der Kragen: Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus. Er wettert gegen die „Häme und Schärfe“, gegen „eine Unkultur in diesem Land“, jegliche Fehler würden als Skandal oder Versagen mit Vorsatz dargestellt. „Wo sind wir denn?“ Dann übernehme irgendwann niemand mehr Verantwortung für Fehler. „Das Gift der Wut sickert ein.“ Das Gift sei am Ende viel schlimmer als das Virus."

Der hätte natürlich auch unterschreiben können.

 

 

Donnerstag, 25. März 2021

Kontrafaktisch.

 

Ganz allein ihre Schuld sei das Tohuwabohu um Ostern - und kaum einer versteht sie falsch: Sie will sagen, ich kann schließlich nicht alles alleine machen. Das dürfte ihr schon vor länge-em auf-gefallen sein, aber sie hat nie einen passenden Zeitpunkt gefunden, es öffentlich aus-zusprechen. Spitze Zungen sagen ja, da läge auch gar nicht in ihrem Naturell, vielmehr habe sie über die Jahre selber den Eindruck erweckt, sie könne alles alleine machen - und sich so eventuelle Mitbewerber vom Hals gehalten.

Insofern ist die Koinzidenz von Osterchaos und Maskenaffäre gar kein Zufall. Die Union sei im freien Fall, lesen wir allenthalben. Und das ist die Stelle, wo ihre One-woman-Show am falschesten war. Denn da ging es, Frau Merkel, gar nicht um Ihre Person und Performance, sondern um die Vorbereitung Deutschlands auf die Aufgaben, die Europa und die Welt unse-rer heranwachsenden Generation stellen werden.

Die Aufgabe des politischen Führungspersonals war es, das deutsche Parteiengefüge aus der Zwangsjacke der Verträge von Jalta zu befreien, aus einer obsoleten Polarisierung zu lösen und um eine Achse herum neu zu gruppieren. In der Luft hing diese Erfordernis eigentlich seit dem Mauerfall, doch richtig akut wurde sie dann mit der Flüchtlingskrise. Ganz allein ihre Schuld, das damals nicht mit der gebotenen Klarheit erkannt zu haben. Ganz allein ihre, weil sie da ja schon alle möglichen Kronprinzen und -prinzessinnen, die sich hätten profilieren können, indem sie ihr zur Hand gingen, weggebissen hatte.

Dafür, Frau Merkel, werden Sie sich eines Tages entschuldigen müssen. Es ging nicht darum, Ihnen und damit der CDU das Kanzleramt zu erhalten; sondern zu erhalten, dass sie es wert war: Und das steht inzwischen in Frage.

 

 

Montag, 22. März 2021

Nirgends war der Zivilisationsbruch so radikal wie in Britannien.

aus FAZ.NET,

Finis Britanniae
Dabei sein, wenn die Invasoren kommen: Eine imaginäre Reise an die Schauplätze der Spätantike in England zeigt, dass nirgendwo der Zivilisationsbruch nach der Römerzeit so radikal war wie in Britannien. 

Strahlend geht die Sonne auf an diesem Augustmorgen des Jahres 491 nach Christus, der für die meisten Männer, die auf den Mauern des Römerkastells von Anderitum Wache stehen, der letzte sein wird. Ihre Frauen und Kinder, die sich in den mit Reet gedeckten Holzbauten im Inneren der Festung zusammendrängen, werden in die Hände der Sieger fallen, was für fast alle von ihnen Sklaverei und Erniedrigung und für einige wenige unverhofften Reichtum und sozialen Aufstieg in eine sächsische Herrschersippe bedeuten wird. Aber noch sieht das träumende Auge des Zeitreisenden den Kampf nicht beginnen, noch steht das Drama dieses Tages auf der Kippe, auch wenn es über seinen Ausgang keinen Zweifel geben kann.

Seit Wochen wird Anderitum belagert. Das Kastell, vor zweihundert Jahren auf einer Halbinsel in den Salzmarschen errichtet, ist die letzte Fluchtburg der britonischen Bevölkerung von Kent, die vor den fremden Kriegern von jenseits des Meeres aus Dover, Richborough, Portchester und den anderen Küstenbefestigungen in das ausgedehnte Waldgebiet südöstlich von London geflohen ist, dessen römische Schmelzöfen und Kohlenmeiler seit langem erloschen sind. Das Litus Saxonicum, die Sachsenküste, war die Antwort des Römischen Reiches auf die zunehmende Bedrohung Britanniens durch germanische Piraten, und Anderitum mit seinen fast zehn Meter hohen Mauern, Doppeltoren und zahlreichen Halbtürmen bildete das stärkste Glied in der Kette der Forts, die bis hinauf nach Yorkshire reichte.

Die Städte verfielen, die Einwanderer kamen

Doch seit dem Abzug der Römer zu Beginn des fünften Jahrhunderts konnten die Germanen die Küste nach und nach unter ihre Kontrolle bringen. Bewaffnete Banden, die ursprünglich als Söldner im Dienst der Städte im Landesinneren standen, haben sich mit ihren Familien in verlassenen Villae und vom Krieg verwüsteten Dörfern niedergelassen. Während der Handel erlosch, die großen Landgüter verfielen, die Magistrate sich auflösten und die dezimierte Stadtbevölkerung vor den Eindringlingen nach Norden und Westen flüchtete, landeten immer neue Schiffe mit Sippen und Stämmen aus Friesland, Jütland und der sächsischen Nordseeregion an den Stränden Südenglands.

Hier kamen die Neuen auf die Insel: Kreidefelsen von Dover

In Kent, das schon den römischen Heeren als Aufmarschzone diente, haben die Ankömmlinge seit der Jahrhundertmitte die Oberhand gewonnen, und Ælle, ihr Anführer, will in diesem Sommer den letzten, vernichtenden Streich gegen die romanobritischen Bewohner des Landes führen. Fällt Anderitum, gehört ihm ganz Kent.

Im Westen werden Hügelfestungen wiederbesiedelt

Alle europäischen Nationen sind Kinder des Chaos. Frankreich erstand aus dem Grauen der Völkerwanderung, Italien wurde von Goten, Hunnen, Langobarden, Sarazenen überschwemmt, Deutschland von Barbarenstämmen auf den Trümmern römischer Siedlungen gegründet. Aber nirgendwo war der Zivilisationsbruch nach der Römerzeit so radikal wie in Britannien. Weil der Völkerstrom aus dem Osten auf der Insel keinen Ausgang findet, staut sich seine Energie zu endlosen Kriegen auf. Stück für Stück, Stadt für Stadt, Flusstal für Flusstal werden die romanisierten Kelten aus dem fruchtbaren Südosten ins Hinterland gedrängt.

Fünfzig Jahre nach dem Abzug der letzten Legionäre sind die britannischen Städte verödet, ihre Straßen von Gras und Schilf überwuchert. In Londinium umschließen die intakten Mauern ein menschenleeres Trümmerfeld. In Eburacum (York), Lindum (Lincoln) und Camulodunum (Rochester) strömt das Wasser aus der zerbrochenen Kanalisation, Kröten und Otter hausen zwischen den Ruinen. Dafür werden im Westen, in Devon, Somerset und dem heutigen Wales, steinzeitliche Hügelfestungen wiederbesiedelt. In Deva (Chester) und Isca (Caerleon) regieren Kleinkönige hinter den Mauern der Legionslager. Jeder kämpft gegen jeden. Anarchie breitet sich aus.

Ein Mann namens Ambrosius Aurelius

Das Auge des Zeitreisenden betrachtet diese Katastrophe im überscharfen Licht der Unwirklichkeit. Es sieht die Krieger, die sich in dichten Haufen vor den zugeschütteten Wehrgräben von Anderitum sammeln, und die dünne Linie der Verteidiger auf den Mauern. Es sieht die zerfallende Stadt Calleva an der Römerstraße von London nach Winchester, die nie wieder aufgebaut, und das verlassene Durovernum, das hundert Jahre später von dem heiligen Missionar Augustinus als Canterbury neu gegründet werden wird. Es sieht auch, irgendwo im westlichen Hügelland, jenes andere Gefecht zwischen sächsischen Belagerern, belagerten Britonen und einer letztlich siegreichen Entsatzarmee, das als Schlacht am Mons Badonicus in die englische Mythenwelt eingeht.

Der Chef der Truppe, die dem bedrängten Hügelfort zu Hilfe eilte, sei ein römischstämmiger Adliger namens Ambrosius Aurelius gewesen, schreibt um 530 ein zorniger walisischer Mönch namens Gildas in seiner Jeremiade „De excidio et conquestu Britanniae“ (Von der Zerstörung und Eroberung Britanniens). Bei Geoffrey von Monmouth, im zwölften Jahrhundert, wird daraus der edle König Arthur, der die Britonen in ihrem Abwehrkampf gegen die sächsischen Invasoren angeführt hat.

Tatsächlich erkennt man im Getümmel um den Badon-Hügel eine Gestalt auf einem Schimmel, die einen ledernen Brustpanzer und den Kammbuschhelm eines Zenturios trägt, vermutlich ein Erbstück romanobritischer Vorfahren. Ist es Arthur oder Aurelius? Und ist die Burg von Tintagel an der Felsenküste Cornwalls, zu deren Füßen gerade ein Schiff mit Handelsware und Luxusgütern aus Konstantinopel anlegt, womöglich sein Herrschersitz, der Ort der berühmten Tafelrunde und der Vision des Heiligen Grals? „Nomina nuda tenemus“, hat ein anderer kluger Mönch geschrieben, und der klügste aller historischen Erzähler hat es ans Ende eines Klosterromans gestellt: Uns bleiben die nackten Namen, die Geschichte dahinter hüllt sich ins Dunkel.

Zurück nach Anderitum. Inzwischen haben die Angreifer mit Leitern die Mauerkrone erklommen, sie strömen über die Zinnen, und das Schicksal der Festung ist besiegelt. „491. Ælle und Cissa belagerten Andredesceaster und schlachteten alle ab, die darin waren, so dass keiner der Briten am Leben blieb“, meldet die Angelsächsische Chronik, die vierhundert Jahre später am Hof Alfreds des Großen entstand – und auch wenn auf dem Weg vom Ereignis zur Niederschrift vieles verlorenging oder verfälscht wurde, bleibt doch die Tatsache, dass nie wieder Britonen in Anderitum siedelten.

Im sechsten Jahrhundert lag hier ein sächsisches Dorf, und nach der normannischen Eroberung von 1066 entstand im südlichen Teil der Umwallung die Burg Pevensey, die noch zu Shakespeares Zeiten genutzt wurde. Im Zweiten Weltkrieg schließlich ließ die britische Marine Schießscharten in die Burgmauern sprengen, hinter denen Geschütze zur Abwehr einer drohenden deutschen Invasion aufgestellt wurden. Aber all das liegt an diesem spätantiken Sommertag, an dem der Rauch der brennenden Häuser aus der eroberten Festung in den Abendhimmel aufsteigt, in weiter Ferne. Das träumende Auge schließt sich.

 

Nota. - Aber was hatte die Sachsen nach Britannien getrieben? Dänen und Norweger waren Seeleute. Aber Sachsen und Angeln brachten ihre Familien mit. Was war da geschehen?

JE

Sonntag, 21. März 2021

Tirols Befreiungskampf gegen den Fortschritt.

Das Riesenrundgemälde in Innsbruck. Auf mehr als 1000 Quadratmetern werden die Ereignisse der dritten Schlacht am Bergisel vom 13. August 1809 dargestellt, in der die Tiroler Franzosen und Bayern schlugen. Eröffnet wurde das Gemälde 1896. Teil 9 von 12 handkolorierten Glasdiapositiven um 1905 

aus welt.de, 17. 3. 2021                Die Tiroler Schützen im Kampf gegen Bayern und Franzosen am Bergisel

Diese Schutzimpfung provozierte den bewaffneten Aufstand
Um die Pocken zu bekämpfen, führte Bayern 1807 als erstes Land der Welt die Impfpflicht ein. Für die neuen Untertanen in Tirol war das Gotteslästerei. Sie griffen zu den Waffen. Auch anderswo formierte sich Widerstand gegen die Vakzination.

Bayern stellte sich an die Spitze des Fortschritts. Am 26. August 1807 erging die Verordnung, dass sich alle Bewohner des jungen Königreichs, die älter als drei Jahre waren und bis dahin die „Blattern“ noch nicht durchgemacht hatten, einer Impfung unterziehen sollten. Diese würde kostenlos von Landgerichtsärzten verabreicht werden. Verweigerern drohten saftige Geldstrafen. Damit war Bayern das erste Land der Welt, das die allgemeine Impfung gegen Pocken einführte.

Das sollte allerdings nicht unwidersprochen bleiben. Der Kapuzinerpater Joachim Haspinger etwa verdammte die Maßnahme als teuflischen Versuch, Gottes Werk zu durchkreuzen und „bayerisches Denken“ einzuimpfen. Denn Haspinger stammte aus Tirol, das das Habsburgerreich nach der Niederlage gegen Napoleon I. bei Austerlitz 1805 an dessen Rheinbund-Verbündeten Bayern hatte abtreten müssen. Unter den konservativen, stramm katholischen Bergbauern verfing die Botschaft, die den Weg zum großen Aufstand bereitete, der Andreas Hofer zum Volkshelden machte.

Führte die Tiroler Schützen gegen die Bayern: Andreas Hofer (1767-1810)Führte die Tiroler Schützen gegen die Bayern: Andreas Hofer (1767-1810)

Die vier Schlachten, die sich seine Tiroler Schützen mit bayerischen und französischen Truppen 1809 am Bergisel bei Innsbruck lieferten, dürfen als Höhepunkte im Streit um die Impfpflicht gelten. Nicht von ungefähr, denn mit der Bekämpfung der Pocken begann die Geschichte der modernen Seuchenprävention.

Die von Orthopoxvirus variolae verursachte Seuche zählt zu den ältesten Geißeln der Menschheit. Pockenviren wurden in Pharaonengräbern nachgewiesen, sie rafften Zaren und Könige ebenso dahin wie ihre Untertanen. Nach dem Verschwinden der Pest galten die „Blattern“ als tödlichste epidemologische Gefahr. Allein in Westeuropa sollen ihr pro Jahr 400.000 Menschen erlegen sein. Da die Pocken in der Neuen Welt unbekannt waren, trugen sie maßgeblich zur Vernichtung ganzer indigener Gesellschaften durch die Konquistadoren bei. Da in Europa etwa zwei Drittel der Infizierten überlebten, erinnerten die Narben, die die aufgebrochenen Pusteln hinterließen, im Alltag an die ständig lauernde Gefahr. 

Dass es ein Mittel dagegen gab, wurde durch die Frau des englischen Botschafters in Istanbul ab 1710 bekannt. Lady Mary Wortley Montagu hatte beobachtet, dass sich Türken mit einer Nadel „Pockeneiter“ in die Haut ritzten und nach wenigen Tagen wieder gesund waren. Diese Inokulation gewann in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zahlreiche Anhänger, nicht zuletzt unter den Habsburgern. Schließlich waren die beiden Frauen Kaiser Josephs II. an den Pocken gestorben. Seine Mutter, Maria Theresia, hatte sie zwar überlebt, war aber von den Narben so schwer gezeichnet, dass sie die Spiegel im Palast entfernen ließ.

Die Inokulation hatte jedoch das Problem, dass sie sehr aufwendig und teuer war, wenn sie einigermaßen sachgerecht durchgeführt wurde. Andernfalls provozierte diese Form der Impfung wiederholt epidemische Ausbrüche, wenn man es vesäumte, die hochansteckenden Patienten auch zu isolieren. Bis der britische Landarzt Edward Jenner 1798 die Ergebnisse seiner bahnbrechenden Untersuchungen veröffentlichte. Er hatte nämlich erkannt, dass Menschen, die sich beizeiten mit den wesentlich harmloseren, von Corpox virus hervorgerufenen Kuhpocken infiziert hatten, gegen seine tödlicheren Verwandten immun waren.

Edward Jenner / G.F.Jacquemot Jenner, Edward, brit.Arzt (begruendete 1796 die Impfung mit Pockenlymphe), Berkeley 17.5.1749 - ebd. 2.1.1823. - Portraet. - Stahlstich von Georges Francois Jaquemot (1806-1880) nach zeitgen. Bildnis, spaetere Kolorierung. Berlin, Slg.Archiv f.Kunst & Geschichte. E: Edward Jenner / G.F.Jacquemot Jenner, Edward, Brit.physician (in 1796 discovered vaccination against smallpox) 1749-1823. - Portrait. - Engraving by Georges Francois Jaquemot (1806-1880) after contemporary portrait, later colouring. Coll. Archiv f.Kunst & Geschichte.

Der erste Politiker, der die Chancen von Jenners Impf-Konzept erkannte, war Napoleon Bonaparte. Als Erster Konsul der Französischen Republik ließ er ab 1800 die ersten Massenimpfungen vornehmen. Bayern nahm sich kurz darauf ein Beispiel. Schließlich war die Pfälzer Linie der Wittelsbacher, die Napoleon nach seiner Kaiserkrönung zu Königen erhob, 1777 durch den Pockentod des letzten Kurfürsten aus der bayerischen Linie an die Macht gekommen.

An Napoleons Seite verordnete sich Bayern ein radikales Modernisierungsprogramm. Eine Verfassung garantierte Freiheits- und Gleichheitsrechte, Leibeigenschaft und ständische Privilegien wurden abgeschafft, Katholiken, Lutheraner und Reformierte gleichgestellt, Bildung und Gesundheitsfürsorge in neue Bahnen gelenkt.

Das bedeutete aber auch, dass die Titel des Tiroler Adels überprüft, die Kirchenorganisation des Landes neu gestaltet und sein Boden katastriert wurde, um eine gerechte Steuererhebung zu gewährleisten. Eine neue Kopfsteuer finanzierte die bayerischen Garnisonen im Land, während die Jahrhunderte alte Tiroler Wehrverfassung außer Kraft gesetzt wurde. Nicht mehr die Schützenkompanien sollten das Aufgebot des Landes stellen, sondern von Wehrpflichtigen gebildeten Truppen, die in die bayerische Armee eingereiht wurden. Die Impfpflicht setzte diesen Kalamitäten schließlich die Krone auf.

Damit waren die Tiroler übrigens nicht allein. Andernorts gingen Gräuelgeschichten von Kindern um, die nach der Jenner-Vakzination auf allen Vieren gelaufen wären und wie eine Kuh zu brüllen begonnen hätten. Selbst ein Aufklärer wie Immanuel Kant vermutete, dass „durch Jenners Kuhpocken die Menschheit sich zu sehr mit der Tierheit gleichstelle und dass der ersteren eine Art Brutalität eingeimpft werden könne“. Brutal wurde allenfalls die Impfpflicht in Frankreich durchgesetzt. So versagte der Rektor der Sorbonne Nichtgeimpften 1810 die Immatrikulation.

Allerdings hatte Napoleons Hauptaugenmerk seinen Soldaten gegolten. Sie waren weitgehend geschützt, sodass die Pocken zu seinen Kriegsverlusten kaum etwas beitrugen. Dafür die Tiroler umso mehr. In drei Schlachten blieben seine Schützen am Bergisel siegreich. Erst als Österreich nach der Niederlage von Wagram im Oktober 1809 Frieden schließen musste und viele seiner Leute sich in die Ernte verabschiedeten, musste Andreas Hofer die entscheidende Niederlage hinnehmen.

Doch die Pockenimpfung wurde kein Selbstläufer. Im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 waren die deutschen Truppen weitgehend geimpft, was sich in 278 Todesfällen niederschlug. In Frankreich jedoch hatte man die Vakzination schleifen lassen. 23.400 tote Soldaten und rund 200.000 zivile Seuchenopfer waren die Quittung.

 

Nota. - Der erste Krakeel ist verklungen und langsam meldet sich die Vernunft. Am vergan-genen Sonntg hat ein bekennender Merkelianer krachend gegen jemand* gewonnen, die sich im Wahlkampf demonstrativ als Gegnerin der Corona-Politik nicht nur ihres Ministerpräsi-denten, sondern auch ihrer Bundeskanzlerin profiliert hatte. 

Man mag es drehen, wie man will, Impfen ist auf jeden Fall eine Vorsichts-Maßnahme. Wer gottergeben abwarten will, was eben kommt, macht keine Politik. Ob wir lieber morgen den Gürtel enger schnallen oder eher heute wie die Fliegen sterben wollen, gilt es abzuwägen. Beim Abwägen geht es immer um mehr oder weniger und nicht um gut und böse. 

Den frommen Tiroler Bergbauern war das vor zwei Jahrhunderten noch nicht klar. Aber mitteleuropäische Wahlberechtigte sind unsrer Tage nicht zu blöd, es zu verstehen.

JE