aus NZZ, 20. 9. 2013 Xi Jinping
Der falsche Gorbatschew
Die Angst vor dem Schicksal der Sowjetunion führt die chinesischen Kommunisten zu einer Rückbesinnung auf die Ideologie
Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping ist im
Westen zunächst als «heimlicher Gorbatschew» gesehen worden. Xi selbst
warnt seine Parteigenossen vor dem Schicksal der Sowjetunion und startet
eine Ideologie-Kampagne zur Stärkung des Systems.
von Markus Ackeret, Peking
Es gibt einen hartnäckigen Mythos
im postsozialistischen Russland. Wäre 1985 nicht der von Intellektuellen
wegen seines südrussischen Akzents und seiner bäuerlichen Herkunft
verachtete Michail Gorbatschew an die Spitze der Kommunistischen Partei
der Sowjetunion gekommen, wäre diese nie untergegangen. Gorbatschews
Versuch, das Sowjetsystem durch wirtschaftliche und politische Reformen
zu bewahren, habe dem sowjetischen Imperium den Garaus gemacht.
Gorbatschew ist bis heute eine Hassfigur für viele Russen.
Schock und Lehrstück
Die reine Symptom-Analyse ist
nicht falsch. «Perestroika» (Umbau) und «Glasnost» (Offenheit) haben
entscheidend dazu beigetragen, dass die kommunistische Parteiherrschaft
ihre Glaubwürdigkeit und damit den Boden unter den Füssen verlor. Die
Analyse blendet jedoch die tieferen Ursachen aus. Als Gorbatschew 1986
Glasnost und Perestroika verkündete, war das System schon so marode,
dass es nicht gewagt ist anzunehmen, es sei kaum mehr zu retten gewesen.
Für Chinas Kommunisten, einst
innerkommunistische ideologische Gegenspieler der Sowjetunion, war deren
Zusammenbruch Ende 1991 ein Schock. Es kursieren viele Erzählungen
darüber, wie sich die Parteielite seither immer wieder mit dem Scheitern
der sowjetischen Genossen auseinandergesetzt hat, um ein vergleichbares
Szenario zu verhindern. Die Angst vor dem Schicksal der Sowjetunion
sitzt anscheinend bis heute fest in den Köpfen vieler führender
Exponenten der Kommunistischen Partei Chinas (KPC). Das sagt auch etwas
aus über die fehlende Selbstgewissheit der Parteiführung und der
Staatsmedien, die sich im Sommer erneut des Themas «Lernen von den
Fehlern der Sowjetunion» angenommen haben.
Der Staats- und Parteichef Xi
Jinping hatte das Schreckgespenst eines sowjetischen Endes der
chinesischen Einparteiherrschaft selbst in die Diskussion eingebracht.
In einer nie offiziell öffentlich gemachten Rede kurz nach seinem
Amtsantritt hatte er Ende vergangenen Jahres vor einem Schicksal, wie es
die sowjetischen Genossen erlebt hatten, gewarnt und zugleich an die
Geschlossenheit und Tatkraft der KPC appelliert. Die Moskauer
Parteifreunde seien nicht Manns genug gewesen, um den Zusammenbruch
ihres Systems zu verhindern, bleute er seinen Zuhörern ein. Er will
nicht als chinesischer Gorbatschew in die Geschichte eingehen.
Diese mit Verzögerung über
informelle Kanäle verbreitete Rede begrub eine Illusion, der zahlreiche
westliche Beobachter nachgehangen waren. In den Wochen vor dem 18.
Parteitag der KPC im vergangenen November hatte in China und ausserhalb
die Diskussion über die Notwendigkeit politischer Reformen im
Mittelpunkt gestanden. Über die Ära Hu Jintao und Wen Jiabao urteilten
auch chinesische Kommentatoren, es sei eine Dekade der Stagnation und
der verpassten Reformschritte gewesen. In die künftige Parteiführung um
Xi Jinping und Li Keqiang wurde die Hoffnung auf eine politische Öffnung
projiziert. Allein mit wirtschaftlichen Reformen sei China nicht mehr
voranzubringen. Xi Jinping als chinesischer Michail Gorbatschew - das
klang in den Ohren aussenstehender Interpreten der chinesischen Politik
verheissungsvoll.
Xi Jinping hat einen anderen Weg
gewählt. Von politischen Reformen ist derzeit nicht die Rede, von Status
quo und Stagnation aber auch nicht. Xi geht es um die Erneuerung und
Festigung des herrschenden Systems. Lange war in China nicht mehr so
viel von der Notwendigkeit gesprochen worden, Marxismus zu studieren und
sich Mao Zedong zu Herzen zu nehmen. Xi bediene sich genauso der
maoistischen Grundlagen, wie das der gestürzte Funktionär Bo Xilai in
Chongqing getan habe, heisst es. Doch Bo trat als ein populistischer
Anführer mit manipulativen Mitteln vor die Massen. Xi ruft nicht das
Volk in Stadien zusammen und zwingt es nicht zu Massenveranstaltungen,
sondern will die Partei von oben «reinigen». Die Parteielite, die sich
durch Verschwendung und Bereicherung vom Volk abgehoben hat, soll sich
auf wahre Werte besinnen. Deshalb die Kampagne für frugalen Lebensstil -
«vier Gerichte und eine Suppe» statt auserlesener Speisen bei Banketten
-, deshalb die Anti-Korruptions-Rhetorik - «Tiger» und «Fliegen» sollen
gleichermassen bestraft werden.
Verfassungsdebatte abgewürgt
Der ideologische Hintergrund
dieser in traditionell kommunistischem Sinne gestalteten Kampagne ist
dennoch unverkennbar. In Xibaipo, dem letzten Rückzugs- und
Kommandoposten der Kommunisten vor der Machtübernahme 1949, mahnte Xi
die Parteimitglieder zur Rückbesinnung auf maoistische Ideale als «beste
Nahrung» für einen bescheidenen «Arbeitsstil». Dieser umfasst
politische Loyalität, Integrität und Kompetenz der Funktionäre. An diese
ist auch eine zentrale Kampagne Xis gerichtet, die sich ebenfalls an
Maos Vorbild orientiert: der Gang ins Volk. Mit dem Aufruf zu
Bescheidenheit ist das eng verknüpft, denn es soll die durch abgehobenes
Verhalten und korrupte Praktiken entfremdeten Parteifunktionäre zurück
zu den Massen bringen. Ein Jahr lang sind die Genossen gehalten, sich
der Selbstkritik - ebenfalls ein Instrument aus der ideologischen
Mottenkiste - zu widmen.
Xi nimmt die Armee nicht davon
aus. Im Unterschied zu seinem in den Streitkräften wenig ernst
genommenen Vorgänger Hu bezieht er sie in seine Anstrengungen zum
Machterhalt ein und gibt ihnen gar ein neues Gewicht. Die
Ideologie-Offensive ist widersprüchlich. Der Aufruf zur ideologischen
Geschlossenheit, zum Marxismus-Studium - unter anderem für alle
Journalisten - und zur Stärkung des Primats der Partei im Staat dient
auch der Gleichschaltung. Es ist der Versuch eines Gegenprogramms zu
Gorbatschews «Glasnost». In der Bevölkerung haben sich in den
vergangenen dreissig Jahren die ideologischen Positionen jedoch
diversifiziert. Bestes Beispiel dafür ist die Möglichkeit, im Internet
die Grenzen der Meinungsäusserungsfreiheit auszuloten. Heerscharen von
Zensoren sind am Werk, aber es dringt, manchmal nur für wenige Stunden,
auch Unerwartetes an die Oberfläche. Die Propagandisten der Partei
bezeichnen solches als «Gerüchte» und haben jüngst das Vorgehen gegen
Internet-Kommentatoren verschärft. Ideologische Verengung und die
Notwendigkeit, durch Transparenz korruptes Verhalten aufzudecken,
widersprechen sich. Neue Spannungsfelder tun sich auf.
Xi hatte einige der Geister, die
seine Propagandisten mit Mühe in die Flasche zurückzustopfen versuchen,
selbst geweckt. Die Staatsmacht müsse in den Käfig des Gesetzes gesperrt
werden, sagte er kurz nach seiner Amtsübernahme. Demokratisch gesinnte
Intellektuelle griffen das auf, um eine langjährige Forderung zu
äussern: Die Verfassung soll den obersten Rechtsrahmen geben, auch für
die Partei. Derzeit steht die Partei über allem, sie besitzt ihre eigene
Verfassung und steht ausserhalb des staatlichen konstitutionellen
Rahmens. Deshalb gibt es in China keine unabhängige Justiz und also
keinen Rechtsstaat. Die Volksbefreiungsarmee ist der Partei, nicht dem
Staat verpflichtet - was der Partei die Möglichkeit gibt, die Macht im
äussersten Notfall auch gegen die eigenen Bürger und das Staatswesen zu
verteidigen. Diskussionen darüber, das zu ändern, sind innerhalb der
Partei unter Xi verstummt. Die als «Konstitutionalismus-Debatte»
bezeichnete Diskussion haben die Staatsmedien im August als Angriff auf
die Parteiherrschaft diffamiert.
Feindbild Westen
In diesen Kontext passt ein Papier
des Büros des Zentralkomitees der KPC, das ebenfalls nicht für ein
breiteres Publikum gedacht war, aber vor wenigen Wochen den Weg in die
Medien fand. Das «Dokument Nummer 9» nennt Gefahren für die Macht der
Partei, die sich in «falschen Formen des Denkens, der Haltungen und
Handlungen» ausdrücken. Mit der Verbreitung der Ideen westlicher
konstitutioneller Demokratie sieht der Leitfaden - nicht zu Unrecht -
das gegenwärtige Herrschaftsmodell infrage gestellt. Überhaupt richtet
sich das Dokument in erster Linie gegen «westliche Werte», als die es
Gewaltenteilung, Mehrparteiensystem, allgemeines Wahlrecht, unabhängige
Justiz und eine dem Staat unterstellte Armee sieht. Die Logik ist
nachvollziehbar: Allen diesen politischen Vorstellungen steht ein
leninistisch organisiertes kommunistisches Regierungssystem
(«Sozialismus mit chinesischen Charakteristiken») diametral entgegen.
Bereits zuvor war es Universitätsdozenten untersagt worden, diese Themen
im Unterricht anzusprechen.
Weil Xi die Reformen Gorbatschews
als eine ideologische Verwässerung interpretiert und den Zusammenbruch
der Sowjetunion als Folge einer nicht mehr standhaften kommunistischen
Führung sieht, scheint für ihn ideologische Rückbesinnung die
konsequente Antwort zu sein. Der Versuch, über die Stärkung der
Parteiorganisation Antworten auf den Ruf nach politischer Reform zu
finden, richtet sich vor allem an die Partei selbst. Der «chinesische
Traum» von der Rückkehr Chinas als Grossmacht ist zu einem neuen
Schlagwort der Propaganda geworden, seit Xi ihn kurz nach seiner Wahl
zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei erstmals zum Thema
gemacht hat. Der Begriff ist nicht neu, und er ist durch Xi bis anhin
auch nicht eindeutig mit Inhalt gefüllt worden. In allen möglichen
Zusammenhängen wird er nun aber von der Propaganda genutzt - wohl auch
deshalb, weil er im Unterschied zu den technokratischen Slogans von Xis
Vorgängern in der Bevölkerung rasch positive Assoziationen auslöst.
Die Sowjetunion ist nicht an zu
wenig Ideologie zugrunde gegangen, sondern unter anderem an der Kluft
zwischen ideologischem Anspruch und Realität. «Glasnost» hat diese
Wirklichkeit noch offensichtlicher gemacht, als sie sich der Bevölkerung
im Alltag ohnehin präsentierte. Die Wahrheit über Ereignisse wie
Tschernobyl liess sich nicht länger verbergen und enthüllte die
Unzulänglichkeit des Systems. Im Zeitalter der neuen Medien ist es erst
recht illusorisch, eine ideologisch getrimmte Einheitsmeinung
durchzusetzen. Auch die Abgrenzung vom «westlichen Denken» ist
angesichts des in vielerlei Hinsicht an der amerikanischen Gesellschaft
orientierten China von heute realitätsfremd. Der sozialistische Anspruch
ist zwar noch in den Köpfen der Chinesen. Der Kontrast zur Wirklichkeit
ist aber so gross, dass das Festklammern an der Ideologie schon lange
anachronistisch ist.
Trotz zunehmenden Protesten gegen
Willkür und die Missachtung von Bürgerrechten gibt es keine
ernstzunehmenden politischen Gruppierungen im Land, die der KPC die
Herrschaft derzeit streitig machen könnten. Doch innerhalb des
herrschenden Rahmens stossen sich jene, die in den vergangenen
Jahrzehnten zu Wohlstand gekommen sind, öfter an Bevormundung,
Rechtsunsicherheit und fehlenden Einflussmöglichkeiten. Sie haben die
Hoffnungen auf einen «chinesischen Gorbatschew», auf Perestroika und
Glasnost in China, genährt. Xi hat sich für eine Re-Ideologisierung
entschieden. Die gesellschaftlichen und politischen Realitäten kann er
damit jedoch nicht ausblenden. Auch eine Rückbesinnung auf «rote Werte»
ist ein politisches Risiko.